Die Ostpolitik der Bundesregierung unter Bundeskanzler Brandt polarisiert Politik und Gesellschaft. Seit dem Streit um den Wehrbeitrag zu Anfang der fünfziger Jahre hat es keine so heftige Auseinandersetzung mehr gegeben. Im Frühjahr 1972 wird im Parlament heftig um die Ratifizierung der Verträge von Moskau und Warschau gerungen. Wegen der nur hauchdünnen Mehrheit der sozial-liberalen Koalition ist die Zustimmung des Deutschen Bundestages jedoch unsicher. Eine Ablehnung der Ostverträge würde allerdings auch das Scheitern des Viermächteabkommens über Berlin bedeuten.
Nach Ansicht der Regierungskoalition sind die Ostverträge Voraussetzung und Grundlage für Zusammenarbeit und Frieden in Europa. Durch sie soll dem Auseinanderleben beider deutscher Staaten entgegengewirkt und Verbesserungen im Interesse der Menschen erzielt werden. Dagegen spricht die Opposition vom "Ausverkauf deutscher Interessen". Sie fürchtet, dass mit diesen Verträgen die Oder-Neiße-Linie endgültig als Westgrenze Polens und die DDR als zweiter deutscher Staat anerkannt werden. Die Bundesregierung habe dilettantisch verhandelt und wichtige Rechtspositionen aufs Spiel gesetzt.
Die Standpunkte stehen unversöhnlich gegeneinander. Das Scheitern des konstruktiven Misstrauensvotums gegen Kanzler Brandt und die Pattsituation im Bundestag machen schließlich eine Zusammenarbeit zwischen Regierung und Opposition unumgänglich. In einer gemeinsamen Entschließung legen die Fraktionen des Bundestages die Positionen der Bundesrepublik nieder, insbesondere das politische Ziel der Wiedervereinigung. Die UdSSR nimmt die Entschließung entgegen, besteht jedoch auf der gegenteiligen Auslegung des Moskauer Vertrages. CDU und CSU enthalten sich deshalb bei der Schlussabstimmung am 17. Mai 1972 der Stimme. Die Ostverträge sind damit jedoch ratifiziert und können gemeinsam mit dem Viermächteabkommen am 3. Juni 1972 in Kraft treten.
(ag) © Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
Stand: 06.01.2015
Text: CC BY NC SA 4.0
Empfohlene Zitierweise:
Grau, Andreas: Reaktionen, in: Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/kapitel/geteiltes-deutschland-modernisierung/neue-ostpolitik/reaktionen.html
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