In seiner Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 kündigt Bundeskanzler Brandt zahlreiche innere Reformen an, die unter dem Leitmotiv "Mehr Demokratie wagen" stehen. In verschiedenen Bereichen der Gesellschaft sollen Mitbestimmung und Mitverantwortung ausgebaut werden. Mit Eifer beginnt die sozial-liberale Koalition sofort ihr innenpolitisches Reformwerk und präsentiert einen Gesetzentwurf nach dem anderen. Wegen der heftigen Auseinandersetzungen über die neue Ostpolitik können zahlreiche Reformprojekte jedoch nicht verwirklicht werden. Die sich ab Mitte der 1970er Jahre verschlechternde wirtschaftliche Lage schränkt die Reformpolitik zusätzlich ein.
Das Alter für das aktive Wahlrecht wird 1970 von 21 auf 18 Jahre herabgesetzt; für das passive Wahlrecht von 25 auf 21 Jahre. 1974 folgen die Herabsetzung des Volljährigkeitsalters von 21 auf 18 sowie die Heraufsetzung der weiblichen Ehemündigkeit von 16 auf 18, die somit einheitlich 18 Jahre beträgt. Zusammen mit den Ländern bemüht sich die Bundesregierung besonders um eine Bildungsreform. Trotz der Verabschiedung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAFöG) im August 1971 und zahlreicher Universitätsgründungen scheitern grundlegende Strukturänderungen im Bildungswesen jedoch an der Länderhoheit und am starken Widerstand der Opposition sowie am Einspruch des Bundesverfassungsgerichts. Sozialpolitische Reformen sollen die soziale Sicherheit erhöhen und Ungleichheiten reduzieren. In diesem Kontext beschließt die Koalition u.a. das Kindergeldgesetz, eine staatlich geförderte Vermögensbildung, ein neues Jugendarbeitsschutzgesetz sowie die Anhebung von Kleinrenten.Im Rahmen der Demokratisierung der Wirtschaft erlässt die sozialliberale Koalition 1971 ein neues Betriebsverfassungsgesetz: Es sichert den Gewerkschaften freien Zugang in Betriebe und erweitert die Befugnisse des Betriebsrates. Das 1976 verabschiedete Mitbestimmungsgesetz verbessert die Mitsprachemöglichkeiten von Arbeitern und Angestellten in Unternehmen. Die von der SPD angestrebte paritätische Mitbestimmung scheitert am Widerstand des Koalitionspartners FDP und der CDU/CSU-Opposition.
Im Ehe- und Familienrecht will die SPD/FDP-Regierung den Grundsatz der Gleichberechtigung zwischen den Ehegatten verwirklichen. Denn die traditionelle Vorstellung, dass die Frau den Haushalt führt und der Mann berufstätig ist, gilt nicht mehr. Bei Scheidungen soll nicht mehr die Schuld eines Partners im Mittelpunkt stehen, sondern die Zerrüttung der Ehe. Durch eine Reform wird auch das Strafrecht liberalisiert und an eine moderne, demokratische Gesellschaft angepasst.
(ag) © Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
Stand: 05.05.2003
Text: CC BY NC SA 4.0
Empfohlene Zitierweise:
Grau, Andreas: Sozialliberale Reformen, in: Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/kapitel/geteiltes-deutschland-modernisierung/bundesrepublik-im-wandel/sozialliberale-reformen.html
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