Dieser Beitrag wurde von Heinz Clemens (1926-2008) aus Dresden verfasst.
Leben im Hochhaus
Vielfach erfährt man, daß sich Bewohner von Hochhäusern kaum kennen oder bei Begegnungen kaum grüßen. Wenn zu einem Hauseingang mehr als 40 Familien gehören, kann das schon so sein. Eine solche Ansammlung von Menschen stellt andernorts fast ein kleines Dorf, einen Weiler, dar. Da werden in jedem Jahr Kinder geboren, da sterben alte Leute, es gibt Hochzeiten, Kindtaufen, Jugendweihen bzw. Konfirmationen und Trennungen von Partnern. Es ist immer etwas los, wie man so sagt.
Nun erhielten wir die Zuzugsbescheinigung für eine Wohnung in einem solchen neuerbauten Haus und freuten uns natürlich. Nach den von uns und den anderer Mietern durchgeführten "Feinreinigungen" in den künftigen Wohnungen wurden wir von der KWV (Kommunale Wohnungsverwaltung) zur Schlüsselübergabe eingeladen. Vertreter der neuen Mieter trafen sich in einem Raum im Erdgeschoß und "beschnupperten" sich zunächst einmal per distance. Eine Mitarbeiterin der KWV übergab einem künftigen Mieter Zettel und Bleistift und erklärte, daß die Schlüsselübergabe erst dann erfolgen könne, wenn auf dem Zettel sechs Namen stehen, die zunächst für die Hausgemeinschaftsleitung gelten sollen. Die Dame verließ den Raum. Alle Anwesenden schauten sich verdutzt an. Nach längerem betroffenen Schweigen beschloß ich, den Fortlauf der Dinge zu beschleunigen und erklärte mich bereit, in der Hausgemeinschaftsleitung (HGL) mitzuwirken, aber nicht als Vorsitzender. Daraufhin gaben, zunächst zögernd, weitere fünf Personen mit gleicher Einschränkung ihre Bereitschaft. Nun standen sechs Namen auf dem Zettel und der Schlüsselübergabe stand zunächst nichts mehr im Wege. Fast alle waren es zufrieden. Nur die sechs direkt Betroffenen mußten nun noch den Vorsitzenden küren. Dieser Vorgang erwies sich als der schwierigere. Es stellte sich heraus, daß alle sechs Personen im Betrieb oder im Wohngebiet bereits ehrenamtliche Tätigkeiten, ohne Honorare oder Diäten, ausübten. Da ich mich als Leiter eines Fachgremiums im Ingenieurverband als ausreichend ausgelastet ansah, wollte ich hier nicht wieder "den Ton angeben".
Das Amt des HGL-Vorsitzenden
Nach längerer Beratung waren sich fünf einig, daß der sechste und Jüngste am würdigsten ist, das Amt des HGL-Vorsitzenden auszufüllen. So galt die Wahl als abgeschlossen und man konnte zu Taten schreiten.
Die Mitteilung der KWV an die HGL, daß auf dem Hauskonto für die vielen Reinigungsarbeiten mehr als 2.000,-- MDDDR zur Verfügung stehen, verstärkte unseren Tatendrang. Eine Gaststätte wurde gefunden, zwei kleine Schweine gekauft und von der Wirtschaft verarbeitet, ein Faß Bier auf dem Saal aufgestellt und eine Kapelle besorgt. Der im Haus angebrachten Einladung zum Hausfest folgte der große Teil der Mieter. Mit einem Autobus (damals noch leichter möglich als nach Verordnung des strengen Benzinkontingentes) wurden die Festteilnehmer zur Gaststätte an der Peripherie von Dresden gebracht.
Im Saal der Gaststätte kam bei Essen, Trinken und Tanz schnell Stimmung auf. Erstaunlich, was zunächst Fremde alles zum Gelingen eines Abends beitragen können. Auf der Heimfahrt im Gelenkbus verstanden sich alle schon prächtig. Wir fanden, daß das für dieses Fest verwendete Hausgeld lohnend angelegt war.
Fortan grüßten sich die meisten Mitbewohner im Fahrstuhl, es kam zu Nachbarschaftshilfen, zu gemeinsamen Feiern im selbst geschaffenen Klubraum, zu Hausfesten, Faschingsfeiern und auch zu gemeinsamer Arbeit an den Grünanlagen. Das Gartenamt stellte nach den Straßenbefestigungen Muttererde bereit, und wir waren die ersten, die das Angebot nutzten, damit uns unser Hausumfeld recht bald Freude bereiten sollte.
“Unser Hof war bald der Schönste
Das ging folgendermaßen vor sich. Der in der HGL für VMI (freiwillige Arbeitseinsätze) Zuständige stellte einige Kästen Bier und Werkzeug vor die Haustür und rief durch die Sprechanlage die willigen Männer am Sonnabendvormittag zum Einsatz. Es kamen immer genügend - aus welchen Motiven auch immer. Erfolg: Unser Hof war bald der Schönste.
Daß später diejenigen, die die meisten VMI-Stunden geleistet hatten, auch die ersten Anwärter auf einen Garagenstellplatz waren, fanden die meisten Mieter recht und billig. So kamen wir, ohne Zwang auszuüben (wer z. B. nicht zum jährlichen Hausfest mit kostenlos - d.h. vom Hausgeld für VMI-Leistungen - gereichten Speisen und Getränken kam, war selbst schuld) zu einer Art Hausgemeinschaft, die sich unter den "Alten" bis heute gehalten hat.
Zur Person
Heinz Clemens wird 1926 in Obercunnersdorf (Kreis Löbau/Sachsen) geboren. In Böhlen bei Leipzig besucht er die Volksschule und macht eine Lehre zum Elektromechaniker. Nach Reichsarbeitsdienst und Wehrdienst kämpft er im Zweiten Weltkrieg als Soldat der Wehrmacht. Er wird verwundet und in verschiedenen britischen Krankenhäusern versorgt. Ab 1950 studiert er in der DDR an der Arbeiter- und Bauern-Fakultät der Technischen Hochschule und an der Technischen Universität Dresden Elektrotechnik. Nach dem Diplom arbeitet er als Lehrbeauftragter an der TH und der TU Dresden, 1970 promoviert er. Clemens arbeitet bis 1991 als Forschungsgruppenleiter in der Energieversorgung und geht 1992 in Ruhestand. Heinz Clemens stirbt im Jahr 2008.
Empfohlene Zitierweise:
Clemens, Heinz: Wie wir eine Hausgemeinschaft wurden, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/heinz-clemens-hausgemeinschaft.html
Zuletzt besucht am: 21.11.2024