Dieser Eintrag wurde von Helene Bornkessel (*1920) im November 2003 im Seniorenbüro Hamburg verfasst.

Im Chaos 1945 gelang es mir, einen neuen Beruf zu finden. Ich war Hausgehilfin gewesen und konnte nun als Näherin in einem Modesalon beginnen. Es war ein Kontrast zur Umwelt. Draußen Trümmer, Hunger und Kälte, und in unserer Nähstube wurde geändert oder es tauchten schon Stoffe für eine Abendgarderobe auf.

Wir waren 10 junge Mädchen oder Frauen, es war eine nette Gemeinschaft und zwischendurch wurde auch über private Sorgen und Freuden gesprochen. Unsere Direktrice hatte Sorgen. Sie hatte sich 1939 mit einem polnischen Journalisten verlobt. Bei Kriegsbeginn kam er ins "Internierungslager" Neuengamme. Bis zum November 1944 hatte sie noch schriftlich Kontakt gehabt. Nun sollte eigentlich Hochzeit sein. Ihre Versuche, ihren Verlobten zu finden, blieben erfolglos. Sie hat nie erfahren, was mit ihm geschah. Wir waren erschüttert.

Im Herbst 1945 fing bei uns ein Lehrling an. Wir wunderten uns, denn das junge Mädchen war schon 18 Jahre alt. Sie erzählte uns dann: "Ich war kurz vor dem Abitur. Mein Vater war Behördenangestellter. Er war aber in der Partei gewesen und wurde jetzt entlassen. Einige Tage später wurde ich aufgefordert, das Lyzeum zu verlassen. Und jetzt lerne ich eben das Schneiderhandwerk."

Hier trafen Welten aufeinander. Der gute Kontakt in der Nähstube wurde durch diese Ereignisse aber nicht gestört. Unsere Direktrice ging 1947 eine neue Bindung ein und unser Lehrling beendete ihre Lehre ohne zu klagen. Ob sie aber von der Demokratie überzeugt war, habe ich nicht bemerkt.

Empfohlene Zitierweise:
Bornkessel, Helene: 1945. Neuanfang in der Schneiderstube, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/helene-bornkessel-neuanfang-in-der-schneiderstube.html
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