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Barbara M.: Das Leben nach dem Mauerfall

Dieser Beitrag wurde von Barbara M. (*1955) 2019 in Heilbronn verfasst.

Ausreisepläne

Nach [einer] Wiener Besuchsreise meines Mannes im Frühjahr 1989 diskutierten wir Eltern über Ein-drücke aus Hannover und Wien. Mit fehlender Meinungs- und Reisefreiheit und Mangelwirtschaft empfanden wir die DDR als Titanic, die wir vorm Untergang und Schulanfang unseres Sohnes 1990 verlassen wollten. Nach Abwägung möglicher Schikanen beantragten wir im Sommer 1989 unsere Ausreise, begründet mit der Pflege einer uns fremden Wiener Oma. Mit der Taufe unserer Kinder am 10. September 1989 nahmen wir Abschied von unserer Wahlheimat Dresden. Montagsdemonstrationen und Botschaftsflüchtlinge in Ungarn bestärkten unseren nicht leichten Entschluss.

Glücklicherweise wurde unsere unpolitisch-familiär begründete Ausreise nach Wien 1989 problemfrei genehmigt. Da es in Dresden zu dieser Zeit weder Kisten noch Koffer zu kaufen gab, packten wir unseren Haushalt zügig in Radebeuler Kaffee- und Teekisten mit scharfen Kanten und Wäscheleinen-Henkeln, da nach [einer] Ausreisegenehmigung häufig eine schikanöse Ausweisung innerhalb weniger Tage folgte.

Erkundungsreise durch Westdeutschland und Umzugspläne

Am Wochenende nach Mauerfall 1989 fuhren wir ohne Kinder nach West-Berlin, um die Grenz-öffnung zu erleben und 100 DM Begrüßungsgeld zu erhalten. Kurz vor Weihnachten 1989 unter-nahmen wir ohne Kinder, mit Trabi und Plastik-Benzinkanister unsere Erkundungsreise nach Westdeutschland, um das Verlassen unserer sächsischen Heimat mit meiner Patentante zu besprechen. Aus Hannover schrieben wir eine erfolgreiche Bewerbung für meinen Mann. Erstmals besuchten wir Frankfurt, Würzburg und Nürnberg, während meine Mutti liebevoll unsere kleinen Kinder in Leipzig betreute. Nach [dem] Leipziger Weihnachtsfest fuhren wir nach Dresden zurück, wo wir unseren Hausrat bereits verpackt hatten.

Neujahr 1990 reiste mein Mann über das Durchgangslager Gießen nach Hannover zur Patentante, die uns als früherer Leipziger Flüchtling großzügig unterstützte. Nach Ausreiseantrag kündigte die Firma VEB Getreidewirtschaft Dresden im Februar 1990 meinen Arbeitsvertrag und wir bekamen nach jahrelangem, begründetem Antrag unser erstes Telefon, das ich wegen vermuteter Abhörabsichten dankend ablehnte. Meine Schwiegereltern zogen im Rentenalter 1990 aus der Wahlheimat Suhl nach Norderstedt bei Hamburg und zehn Jahre später nach Suhl in die gleiche Straße zurück. Die älteren Brüder meines Mannes zogen zeitgleich, ohne späteren Rückzug, von Dresden und Berlin ebenfalls nach Hamburg.

Umzug in den Westen

Mit zwei Vorschulkindern und Sachsen-Service bereitete ich unseren Ost-West-Umzug vor. Am 18. Mai 1990 passierten wir mit abgestempelten Zollunterlagen und aufgelistetem Hausrat die innerdeutsche Grenze und unser neues Leben in Westdeutschland begann. Eine Anstellung bei Philips and DuPont Hannover wurde Sprungbrett für unseren Neubeginn. Vorübergehend lebte unsere junge Familie im Landkreis Hannover, im schönen Ehlershausen bei Celle. Freundlich, vor-urteilsfrei wurden wir aufgenommen und fanden Hausfreunde. Unsere Kinder Michael und Katharina erlebten im August 1990 ihren Schulanfang ohne Pioniere und Fahnenapell.

Unseren berufsbedingten Umzug Ehlershausen – Heilbronn am 26. September 1991 begleiteten unsere Kinder mit dem Lied: „Lieber Gott, lass die Sonne wieder scheinen, für Papa, für Mama und für mich. Alle Leute, die großen und die kleinen, haben Sehnsucht nach Sonne wie ich.“ Nach Heimwehphasen fanden wir zunächst unter sächsischen Landsleuten neue Freunde. Im grünen Heilbronner Osten renovierten wir eine schöne Vierzimmerwohnung mit Fernblick, in der wir uns sehr wohlfühlten. Hier erlebten unsere Kinder eine schöne Schul-, Gymnasial-, Konfirmanden- und Tanzstundenzeit mit kurzen Wegen. Seit 28 Jahren ist diese Wohnung beliebte Elternhaus-Adresse, heute für unsere auswärtigen Kinder mit Ehepartnern und kleinen Enkeln.

Umschulung und privater Neuanfang

Da ich als Diplomingenieurin keine Stelle fand, schulte ich mit einem „Lehrgang für arbeitslose Akademiker“ 1994/95 an der IHK Ludwigsburg zur Industriefachwirtin um […] [und] fand […] 40-jährig meine erste Stelle als kaufmännische Angestellte im Weinsberger Anlagenbau. Nach neun Berufsjahren und Auszug unserer Kinder zum Studium traf mich eine betriebsbedingte Kündigung in die Arbeitslosigkeit besonders hart. Als 55-Jährige fand ich meine interessanteste Stelle in einer Neckarsulmer Solarfirma und heiratete meinen Heilbronner Chorfreund in der Leipziger Thomaskirche, nach Trennung von meinem Thüringer Mann.

Meine Zwillingsschwester Ursula zog Neujahr 2008 von Dresden nach Wien. Nach überraschendem Tod unserer Mutti 2014 verkauften wir unser 90-jähriges Leipziger Elternhaus, da hohe Investitionen nicht möglich waren. Als bodenständige Leipzigerin lebte unsere Mutti 60 Jahre, davon 25 Jahre allein, in unserem Elternhaus, das ihr viel bedeutete.

Mein Sohn Michael schenkte als Journalist der Deutscher Welle mit [dem] Video „Meine Oma, das Regime und ich“ unserer Familie eine bleibende Erinnerung an unsere Mutti und Patentante. Wie eine zweite Mutter begleitete meine Patentante liebevoll mein ganzes Leben und ich bin dankbar dafür. […]

Nach vielen Bewerbungen und Neuanfängen stellte ich mit 40-jährigem Diplom meine Stellensuche ein. Meine ausgefallene Berufskarriere beendete ich mit 63 Jahren und bin im Ruhestand ehrenamtlich unterwegs.

Mein 1974er Abitur-Thema „Das Wertvollste, was der Mensch besitzt, ist das Leben.“ wurde mein Lebensmotto. […] Als gebürtige Leipzigerin mit schwäbischem Namen lebe ich seit knapp 30 Jahren im Ländle und habe hier meine neue Heimat gefunden.

Zur Person

Barbara M. wird 1955 in Leipzig geboren. Dort legt sie 1974 an der Erweiterten Oberschule Thomas (Thomasschule) ihr Abitur ab. Da ihr das Wunschstudienfach Medizin verwehrt wird, studiert sie zwischen 1974 und 1978 Verfahrenstechnik an der Technischen Hochschule Leuna-Merseburg und schließt das Studium als Diplom-Ingenieurin ab. Anschließend arbeitet sie im VEB Elektrotechnik Dresden sowie im VEB Getreidewirtschaft Dresden. Sie heiratet und bekommt zwei Kinder. Im Mai 1990 zieht sie mit ihrer Familie von Dresden nach Hannover und im Jahr darauf nach Heilbronn. Nach ihrer Elternzeit absolviert sie 1994/95 eine Umschulung zur Industriefachwirtin und arbeitet in diesem Beruf für verschiedene Firmen im Heilbronner Umland. 2018 geht sie in Rente und ist seitdem in verschiedenen Ehrenämtern aktiv. Barbara M. lebt mit ihrem zweiten Mann weiterhin in Heilbronn.

Empfohlene Zitierweise:
M., Barbara: Das Leben nach dem Mauerfall, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/barbara-m-das-leben-nach-dem-mauerfall.html
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