Zeitzeugen > Nachkriegsjahre

Carsten Stern: Im Lager bei den Russen. Schwarz über die Interzonengrenze 1946

Dieser Eintrag wurde von Carsten Stern (*1942) aus Hamburg im November 2007 eingereicht. Der Beitrag ist ein Auszug aus den Lebenserinnerungen von Karla Stern, geb. Lindorf.

Auszug aus den Lebenserinnerungen von Karla Stern, geb. Lindorf.

April 1946

Ich wohnte mit meinem 3jährigen Sohn in Hamburg-Blankenese in einem Zimmer bei einer Tante. Als ich von der Erkrankung meiner Mutter in Berlin erfuhr, beschloss ich, nach Berlin zu fahren. Meine Tante war gerne bereit, meinen Sohn zu betreuen. Zusammen mit meiner Schwägerin und ihren Kindern fuhr ich Ende April zunächst nach Göttingen in ein Flüchtlingslager. (Der Zugverkehr durch die Sowjetzone nach Berlin existierte nicht.) Von dort sollte ein Transport nach Berlin zusammengestellt werden. Dort wurden für Flüchtlinge Lebensmittelkarten ausgegeben. Soweit ich mich erinnern kann, bekam ich keine und musste von den mitgeführten, für meine Eltern bestimmten Lebensmitteln leben. Darum beschloss ich, schwarz über die Grenze zu gehen, zusammen mit einer jungen Frau, die ich im Lager kennen gelernt hatte. Junge Männer boten sich gegen Bezahlung als Helfer an. An einer "sicheren" Stelle wollten sie uns herüberbringen. Die "Stelle" war nicht sicher. Als wir über ein Feld liefen, hörten wir plötzlich: STOI. Wir Frauen wollten weiterlaufen, aber die Männer riefen, bleibt stehen!

Zwei russische Soldaten richteten ihre Gewehre auf uns. Wir mussten unsere Rucksäcke öffnen, sie filzten uns. Sie nahmen Zigaretten (nicht alle) und etwas Speck. Dann mussten wir alle vier mit ihnen zu einer russischen Kommandantur, die am Tage vorher dort eingerichtet worden war. Ich hatte Angst. Sie sperrten uns in einen Keller. Dort waren viele andere Menschen, die sie abgefangen hatten. Unsere Ausweise (es waren noch die alten) wurden uns abgenommen. Nach einiger Zeit mussten wir alle aus dem Keller nach oben kommen und zum Appell antreten. Es war der 1. Mai, ein warmer Sommertag. Wir wurden aufgerufen, einige nach rechts, einige nach links beordert. Schließlich wurden wir wieder in den Keller gescheucht. Dies wiederholte sich mehrmals. Wir wussten nie, was günstiger war: rechts oder links. Vielleicht war es nur Willkür.

Zur Arbeit eingeteilt

Bei einem dieser Appelle wurden wir zur Arbeit eingeteilt. Ich musste mit anderen eine "Wiese fegen". "Womit sollen wir fegen? Wir haben keinen Besen." So rissen wir kleine Bäumchen aus und fegten. Sobald die Russen verschwanden, legten wir uns in die Sonne. Andere mussten Fenster putzen. Eine junge Frau erzählte uns, dass sie ein Fenster viele Male geputzt hätte. Ein Russe war ständig hinter ihr her. Einen anderen russischen Soldaten sah ich auf der Gulaschkanone stehen und mit seinem Bajonett in der Suppe rühren. Dann kratzte er mit demselben Bajonett den Dreck außen an der Gulaschkanone ab und rührte wieder in der Suppe. Es wurde Abend. Wir saßen wieder im Keller. Dann war der nächste Appell fällig, wieder Einteilung nach rechts und nach links.

Aber dann kam etwas Neues. Die eine Gruppe wurde entlassen. Unter der Führung von deutscher Polizei marschierten wir ab. War mit den Zurückbleibenden geschah? Darunter war die Fensterputzerin, die russisch sprechen konnte. Die Polizisten brachten uns nach Heiligenstadt: "Seid froh, dass wir euch führen," sagten sie uns. Von Heiligenstadt ging es nach Wittenberg. Es war inzwischen dunkel geworden. Als wir am Bahnhof in Wittenberg ankommen, bieten uns Leute Zimmer zum Übernachten gegen Bezahlung an. Ich schlafe mit drei anderen in einem Schlafzimmer.

Wie komme ich nach Berlin?

Am nächsten Morgen erhob sich die Frage: Wie komme ich nach Berlin? In unserer Gruppe waren u.a. vier Frauen aus Köln, die während des Krieges nach Sachsen evakuiert worden waren. Sie wollten noch Sachen aus Sachsen holen und dann zurück nach Köln. Sie hatten noch Reiseausweise aus der Zeit. Ein Reiseausweis war nötig zum Kauf einer Fahrkarte. Sie liehen uns ihre Ausweise. Als ich an der Reihe war und eine Fahrkarte nach Berlin verlangte, sagte der Beamte: "Der Ausweis kommt mir bekannt vor." Ich bekam meine Fahrkarte.

Beim langen Warten auf den Zug bieten uns die Frauen aus ihren Vorräten - viel Eingemachtes - zu essen an. Ich habe in diesen Jahren so viel Hilfsbereitschaft erlebt, und zwar besonders von Menschen, die selbst nicht viel hatten. Wer im Krieg selbst nichts verloren hatte, gab selten etwas ab. Es war der 4. Mai, als ich nach 4 Tagen in Berlin ankam. 4 Tage von Hamburg nach Berlin. An meinem Schuh fehlte ein Absatz, den hatte ich irgendwo verloren.

Empfohlene Zitierweise:
Stern, Carsten: Im Lager bei den Russen. Schwarz über die Interzonengrenze 1946, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/carsten-stern-im-lager-bei-den-russen.html
Zuletzt besucht am: 19.07.2024

lo