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Christina Rausch: Hauptstadtdebatte

Dieser Beitrag wurde von Christina Rausch (*1983) in Bonn verfasst.

Der Bonn-Berlin Umzug

Am 20. Juni 1991 sollten 660 Abgeordnete eine Entscheidung treffen, die das Leben von Millionen schlagartig verändern konnte. Gespannt verfolgte ich die Nachrichten zusammen mit meinen Eltern. Natürlich verstand ich, als damals Siebenjährige, nicht allzu viel, aber eines verstand ich auf jeden Fall: "Es geht nach Berlin". Für mich war es einfach unfassbar, dass irgendwelche Menschen, von denen ich im Leben noch nie etwas gehört hatte, einfach beschließen konnten, dass ich meine Freunde, meine Schule und mein Zuhause aufgeben sollte. Erst mit der Zeit wurde mir klar, dass alles frühestens zehn oder zwölf Jahre später ernst werden sollte.

Die Abstimmung: Bonn oder Berlin?

Am 20. Juni 1991 tagten also 660 von eigentlich 662 Abgeordneten des Bundestages (nur 2 fehlten!). Nach langen, hitzigen Debatten, in denen jede Seite versuchte, noch ein paar Pro-Stimmen von der Gegenseite dazu zu gewinnen, stimmten sie in einer freien Wahl darüber ab, ob Berlin wieder die Bundeshauptstadt Deutschlands werden oder die Regierung samt Parlament in Bonn bleiben sollte. Auch der Vorschlag einer Teilung der beiden Gewalten wurde geäußert, fand aber fast ausschließlich bei der CDU/CSU Anklang. So kam es, dass Berlin mit 18 Stimmen Vorsprung das Rennen machte und der Umzug beschlossene Sache war. Um vollkommen sicher zu gehen, musste zweimal nachgezählt werden! 53% der SPD hatten sich für Bonn entschieden, wie auch 52% der CDU/CSU. Dagegen waren sowohl 67% der FDP, als auch 94% der PDS und 75% der Grünen für Berlin. Die Abstimmung wurde aber gleichzeitig auch überschattet mit für mich unverständlichen Äußerungen einiger Politiker. Willy Brandt, der einst regierende Bürgermeister Berlins, zum Beispiel, meinte doch tatsächlich Bonn mit Vichy, dem Sitz der französischen Nazi-Kollaborateure, vergleichen zu müssen (Quelle: Süddeutsche Zeitung).

Nach der Wahl kämpften einige Abgeordnete sichtlich mit der Fassung. Norbert Blüm war von lähmendem Entsetzen ergriffen und ballte und öffnete die Faust, um die gerade erlittene Niederlage realisieren zu können. Genauso erschüttert war auch der Bonner Oberbürgermeister Hans Daniels. Wer könnte es ihm verdenken? Schon einen Tag später wurde eine vorläufige Zeitplanung erstellt. Dabei wurden vier Jahre für den Wechsel des Parlaments und zehn Jahre für den Umzug der wesentlichen Teile der Bundesregierung und der Botschaften veranschlagt. Kurze Zeit später hieß es, in zehn bis zwölf Jahren sollten Parlament und Regierung in Berlin einsatzfähig sein. Der stellvertretende FDP-Vorsitzende Gerhard Baum warnte seine Kollegen: Die Region (um Bonn) verfalle in eine Perspektivlosigkeit, wenn nicht unverzüglich versprochene Ausgleichsmaßnahmen konkretisiert würden. Die Hauptsorge läge im Wohnungsmarkt. Die Preise für Grundstücke, Häuser und Wohnungen schössen in die Höhe, denn schon jetzt gäbe es einen Fehlbedarf von 170 000 Wohnungen, meinte die Bauministerin Adam-Schwätzer über die Lage in Berlin. Doch da begann schon der Bau-Boom in Berlin.

Mit dem Gedanken angefreundet

Mittlerweile bin ich älter geworden, und ich muss sagen, dass mir der Gedanke, nach Berlin zu gehen, von Tag zu Tag besser gefällt. In den vergangenen neun Jahren habe ich festgestellt, dass Bonn immer weniger Neues zu bieten hat, während Berlin sich neben Paris und New York/Washington, zu einer Weltstadt gemausert hat. Obwohl unser Umzug noch absolut nicht sicher ist, wäre ich auch mit einer solch großen Umstellung nicht unzufrieden, vor allem, wenn man bedenkt, dass einige meiner Freunde sowieso auch dorthin 'müssen'.

Der Reiz Berlins

Über Berlin wird in den Zeitungen im Moment vieles gesagt: "Hier beginnt die Zukunft" oder "Das neue Berlin ist vor allem ein Lebensgefühl". Gleichzeitig ist es aber auch "viel zu unordentlich für das prüde Deutschland". Genau darin besteht aber auch der Reiz, der Reiz freier Entfaltung und dem Rest des Landes eine gut zusammenlebende Multi-Kulti-Gesellschaft vorzuleben. So wurden am 30. Juni 1999 130 000 Türken, 28 000 Polen, 10 000 Amerikaner, 7 000 Iraner, 7 000 Libanesen, 8 000 Vietnamesen, 14 000 Russen und Ukrainer und 14 000 Afrikaner gezählt. Samt den ausländischen Bürgern ungeklärter Herkunft leben, wohnen und arbeiten etwa eine halbe Millionen Ausländer in Berlin. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass jeder sechste in Berlin arbeitslos ist (Daten von 1999).

Mehr als würdige Hauptstadt

Einen weiteren Beitrag zu der neuen Freiheit gründeten vor einigen Jahren Dr. Motte & Westbam mit der Love-Parade, die mittlerweile allerdings ihren ursprünglichen Charakter verloren hat, und zum Tourismus-Spektakel verkommen ist. Fast genauso populär ist der Christopher Street Day, der Schwulen- und Lesben-Tag, an dem auch Heterosexuelle (insgesamt 400 000) immer wieder gerne teilnehmen. Das globalisierte und facettenreiche Berlin ist, nicht ohne Milliarden-Investitionen, zu einer mehr als würdigen Hauptstadt Deutschlands geworden. Das einzige wirkliche Argument gegen Berlin ist: Sie haben noch nicht einmal richtige Karneval dort!!

Quelle für die Daten: Süddeutsche Zeitung (21. und 22. Juni 1991), Der Spiegel (6. September 1999)

Empfohlene Zitierweise:
Rausch, Christina: Hauptstadtdebatte, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/christina-rausch-hauptstadtdebatte.html
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