Zeitzeugen > Nachkriegsjahre

Dagmar Bruch: Umzug von Göttingen in die "Ostzone"

Dieser Beitrag wurde von Dagmar Bruch aus Göttingen im Jahr 2001 verfasst.

Sommer 1947

Mein damaliger Mann, junger Theologe, wurde von seiner Behörde gefragt, ob er sich freiwillig melden würde als Gemeindepastor in ein Dorf in Thüringen zu gehen, Teil der damals sowjetisch besetzten "Ostzone". Familienrat. Entsetzen bei den Großeltern unserer damals ein- und zweijährigen Kinder. Doch jugendliche Abenteuerlust siegte, wir waren uns klar darüber, daß ein Abenteuer uns erwartete, denn wer ging damals schon freiwillig zu den "Russen"? Unsere Kinder sollten zunächst bei den Großeltern bleiben. Zunächst einmal Regelung des Umzug-Transportproblems. Es gab nicht viel zu transportieren, denn das Kriegsende hatte uns weniger als das Nötigste an Möbeln und Hausrat gelassen, doch immerhin soviel, daß ein kleines Fahrzeug benötigt wurde. Da zu der Zeit nichts erreicht, nichts erworben, nichts veranlaßt werden konnte, es sei denn gegen Bezahlung in der damaligen Zigarettenwährung, waren erst einmal "Amis", d.h. Lucky Strike oder Stuyvesant zu besorgen, was mehrere Wochen in Anspruch nahm und auch nur durch gewisse Beziehungen zu einem US-Amerikaner überhaupt möglich war. Zu dem gleichen Zwecke wurden gerettete wertvolle Schmuckstücke eingetauscht.

Endlich Zigaretten

Endlich, einige Zigarettenschachteln in der Hand, ging es in Göttingen, unserem damaligen Wohnort auf die Suche nach dem benötigten Klein- LKW. In einem düsteren Schuppen wurde dieser endlich gefunden, abgefahrene Reifen, Holzvergaser, zwielichtiger Besitzer und Fahrer. Eine gewisse Anzahl von einzelnen Zigaretten wurde als Fahrpreis ausgehandelt, und unser Hausrat, bestehend aus zwei Matratzen, einem Schrank, Tisch, vier Stühlen, einer einflammigen Kochplatte, eine Pfanne, einigen wenigen Töpfen, Tellern ,Tassen, Besteck, den zur Ausübung des geistlichen Amtes erforderlichen Büchern sowie einem alten Fahrrad wurden aufgeladen, wir setzten uns auf der offenen Ladefläche dazu. Es war Sommer, die Sonne schien, wir waren jung und guter Dinge. Die etwa 40 km lange Fahrt bis zur "grünen Grenze" zwischen Niedersachsen und Thüringen ging gut vonstatten, die befürchtete Reifenpanne blieb aus. Mitten auf der Straße in Richtung Nordhausen erklärte uns unser wenig Vertrauen erweckender Fahrer, daß hier die Reise für ihn beendet sei und begann sofort zügig damit unseren Hausrat abzuladen und mitten auf die Straße zu stellen. Unsere Beschwörungen, selbst unsere Zigaretten zeigten keine Wirkung, er wendete und tuckerte zurück Richtung Göttingen.

Hoffen auf ein Wunder

Der Himmel hatte sich bezogen, es begann zu nieseln, wir standen neben unseren Habseligkeiten und hofften auf ein Wunder. Nach einigen Stunden Wartezeit erschien dieses Wunder tatsächlich in Form eines Landwirts mit Trecker und Anhänger. Von uns wiederum mit vielen schönen Reden und mit Zigaretten bestochen und wohl auch aus einem gewissen Mitgefühl heraus, und, weil er sowieso vorhatte in die von uns gewünschte Richtung zu fahren, half er uns bei neuerlichem Beladen und fuhr uns die etwa 30 km zu dem Dorf, das unserem künftigem Wohnort benachbart war. Inzwischen war es Abend, die Dämmerung nicht mehr fern, als unser Trecker rasselnd vor dem Pfarrhaus vorfuhr. Der Ortspastor trat vor die Tür, und in seinem Gesicht spiegelte sich keineswegs brüderliche Gastfreundschaft. Das große Pfarrhaus, wie damals üblich, war mit "Flüchtlingen" bis unters Dach belegt, verfügte über keine Gasträume mehr, und ihre kärglichen, mit "Rübensaft" dünn bestrichenen Brotscheiben wollte das Pastorenehepaar auch nicht gerne mit uns teilen.

Ankunft im neuen Wohnort

Der Hund bellte, es regnete, was also tun? Unsere Habseligkeiten wurden erneut ausgeladen, diesmal in die Pfarrscheune, also wenigstens ins Trockene. Uns wurde der Weg beschrieben, etwa 5 km, der zu unserem zukünftigen Wohnort führte, und wozu hatten wir unser Rad? Dort angekommen, müde und hungrig, erfuhren wir als erstes, daß das Pfarrhaus nicht zu unserer Verfügung stünde, sondern als "Kommandantura" von den Russen beschlagnahmt sei. Doch in der Schule könnten wir wohnen, die von einer Luftmine in den letzten Kriegstagen weit weniger beschädigt worden war als die daneben stehende Kirche. Natürlich waren keine Wiederaufbau- und Reparaturarbeiten ausgeführt worden, gut zwei Jahre nach Kriegsende verfiel langsam die Kirche, im Schulhause waren sämtliche Fensterscheiben zersplittert und durch gelbliche, undurchsichtige Plastikfolie ersetzt worden. Die Lehrerswitwe, Bewohnerin der Wohnung über den Klassenräumen war sehr nett und trat uns bereitwillig zwei große Zimmer und Küche ab. Ein Bad mit WC gab es ebenso wenig wie eine Wasserleitung. Plumpsklo über den Schulhof, Wasserpumpe etwa 30 m entfernt auf der Dorfstraße. Doch zunächst waren wir glücklich nach diesem ermüdenden und abenteuerlichen Tag ein Dach über dem Kopf zu haben und auf dem Fußboden schlafen zu können.

Wir richteten uns ein

Ein Pferdefuhrwerk brachte am nächsten Tage unseren Hausrat, wir richteten uns ein. Tage und Monate des Improvisierens begannen. Zwar gab es "Lebensmittelkarten" doch kaum etwas darauf zu kaufen .Zwar gab es elektrischen Strom, doch häufig und zu ungewissen Zeiten stundenlange Stromsperren, also nicht immer die Möglichkeit zu kochen. Doch war der Sommer außergewöhnlich schön, Tag für Tag stand der Himmel hoch über der schönen Landschaft und es gab Apfel- und Pflaumenbäume unter denen man die abgefallenen Früchte sammeln durfte, es gab Weizen- und Roggenfelder, auf denen das "Stoppeln" erlaubt war, d.h. das Sammeln der hie und da abgefallenen und liegengebliebenen Ähren nachdem die Garben abgefahren worden waren. Einmal pro Woche wurden in der Mühle diese Ähren bearbeitet und gemahlen, die Flüchtlinge und eben wir in kleinen Säcken dorthin brachten. Welche Freude, auf diese Weise dann etwa 1 kg Mehl nachhaus tragen zu können! Unsere Lehrerwohnung duftete den ganzen Sommer über nach den Falläpfeln, die den Boden und den einzigen Schrank bedeckten. Apfel-Pfannkuchen waren den ganzen Sommer über, wenn nicht gerade Stromsperre dies verhinderte, unser tägliches Brot, und sie haben uns gut geschmeckt.

Erste Freundschaften

Mit der Zeit gewannen wir auch einige Sympathien in dem traditionell unkirchlichen kleinen Dorf, so gab es dann gelegentlich einige Eier, ein Stückchen Speck oder sogar eine Einladung zum Mittag- oder Abendessen. Bevor Kartoffel- und Rübenernte begannen, zogen wir wieder um ins Nachbardorf in dem Pfarrhaus und Kirche unzerstört geblieben waren. Wieder stand ein Pferdefuhrwerk vor unserer Tür, es wurde auf- und nach kurzer Fahrt wieder vor der Tür unseres neuen Domizils abgeladen. Das Pfarrhaus, erbaut 1750, war in einigermaßen gutem Zustand, jedoch schien während der letzten 200 Jahre in seinem Inneren nichts zu seiner Modernisierung getan worden zu sein. 1947, dem Zeitpunkt unseres Einzugs, wurde es bewohnt von 16 Flüchtlingen, Pommern, Ostpreußen, Schlesiern, Sudetendeutschen, jedoch waren für die Familie des Pastors drei Zimmer freigehalten worden. Für sie gab es sogar ein Plumpsklo im Hause, das im Winter regelmäßig zufror, wodurch sich skurrile Situationen ergaben. Die fünf Flüchtlingsfamilien teilten sich das Plumpsklo "übern Hof". Für uns alles zusammen gab es als einzige Wasserquelle im großen Haus eine Pumpe in der Küche, die in regelmäßigen Abständen ihren Dienst versagte und von einem pommerschen Flüchtling, einem sehr geschickten Handwerker, jedesmal so gut es eben ohne erforderliches Material ging, repariert wurde. Von den uns zugewiesenen Zimmern war nur das kleinste Ofen heizbar, leider fehlte zunächst das Heizmaterial.

Erneuter Umzug

Es gelang uns, wiederum mit Zigaretten und erheblichem Papierkrieg einen Teil der Möbel meines Elternhauses in West-Berlin in unser Dorf zu transportieren. Diesmal sogar per Möbelwagen. Außerdem gab es in Nordhausens Antiquitätenläden für sehr wenig Geld schöne alte Stücke zu kaufen aus Adelshäusern, deren Besitzer beim Einzug der Russen in Thüringen Hals über Kopf aus ihrer Heimat geflohen waren. So hatten wir nun eine eingerichtete Wohnung, nur Gardinen fehlten noch jahrelang, ebenso ein Telefon. Gekocht wurde in der großen, mittelalterlich anmutenden Küche, leider aus Holz- und Kohlemangel nur in Ausnahmefällen auf dem riesigen Eisenherd, sondern auf der schon erwähnten einflammigen Kochplatte.

Unsere beiden kleinen Jungen kamen jetzt auf folgende Weise zu uns: Die Großeltern aus Göttingen brachten sie zu einem brieflich vereinbarten Zeitpunkt (die Post zwischen die einzelnen Zonen funktionierte, wenn auch langsam und unzuverlässig) an den nächstgelegenen Grenzübergangspunkt, an dem mein Mann sie mit einem geliehenen Handwagen in Empfang nahm und sie mit ihm die etwa 30 km zu unserem neuen Zuhause fuhr. Öffentliche Verkehrsmittel gab es zu dieser Zeit nur spärlich, und wenn es sie gab, waren sie nur für die "werktätige Bevölkerung" bestimmt, und zu der zählte ein Pastor selbstverständlich nicht.

Leben mit Improvisationen

Unser Leben in diesem Pfarrhaus, das sich auf 7 Jahre belief, begann wiederum mit Improvisationen, diesmal auf höherem Niveau. Doch Schritt für Schritt ging es aufwärts. Zu unserem ersten Weihnachten bekamen wir zwei Gänseeier geschenkt, eine sehr kostbare Gabe, aus denen uns eine Zuchtgans erwuchs, einige Hühner kamen hinzu, Kaninchen, eine Ziege und jedes Jahr ein Schwein. Wie bei jedermann im Dorf wurde ein Teil dieser Tier bei Nacht und Nebel geschlachtet um sie sich nicht auf die immer noch existierende "Fleischkarte" anrechnen lassen zu müssen. Im großen Kupferkessel der Waschküche, in dem zu Weihnachten und Ostern Badewasser heiß gemacht wurde, was eimerweise von der Pumpe herangeschleppt werden mußte, kochten dann Speck und Würste. Für Heizmaterial hatte die Kirchengemeinde gesorgt. Der brachliegende Garten wurde bebaut, wobei ich wirksame Hilfe von der bei uns einquartierten pommernschen Familie hatte, ich selbst ging oft mit den Bauern aufs Feld, um durch meine Hilfe dort Deputate in Form von Lebensmitteln zu bekommen.

Schöne Zeit

Es war eine schöne Zeit. Meine Kinder kugelten neben mir in Heu oder Stroh, mein kleiner Hund jagte Mäuse. Jeden Herbst erhielt ich auf diese Weise einige Zentner Zuckerrüben. Sie zu dem damals allgegenwärtigen "Rübensaft" zu verarbeiten, gehörte allerdings nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Diese Arbeit zog sich über Tage hin und mußte teilweise auf dem kalten, zugigen Hof erledigt werden. Schließlich mußte das Kochen des endlich gewonnenen Rübensaftes im Kupferwaschkessel Tag und Nacht überwacht werden um Anbrennen und damit Bitterkeit des Syrups zu verhindern. Noch heute, 50 Jahre danach, ist mir dieser Rübensyrup verhaßt. Ein anderes, nicht minder dringliches Problem als das der Ernährung war das der Bekleidung. Bei meiner Flucht aus Berlin Ende Februar 1945 hatte ich nichts anderes mitnehmen können, als ich auf dem hochschwangeren Leibe trug und in einem Rucksack transportierte. Zwei Koffer waren mir unterwegs gestohlen worden. Mein Mann kam mit abgerissenen Uniformteilen Oktober 1945 aus französischer Kriegsgefangenschaft zurück. Die Währungsreform und die damit verbundene Möglichkeit wieder alles kaufen zu können, war an der Ostzone spurlos vorübergegangen. Was war zu tun? Zunächst einmal wurden Hakenkreuzfahnen geschlachtet und zu Kleidungsstücken verarbeitet. Begehrt war auch langwirtschaftliches Bindegarn, das sich recht gut zum Stricken von Pullovern eignete, und natürlich Uniformteile, die fantasievoll umgeschneidert wurden. Gelegentlich ging es wie ein Lauffeuer durch die Dörfer: "da und da gibt es Stoff". Diese Stoffe wurden als "deutscher Wald" bezeichnet, sie waren auf irgendeine Weise aus Bäumen hergestellt worden.

Obgleich man wußte, daß sie wenig komfortabel und kratzig waren, machten sich alle auf, per Rad, zu Fuß, um nach diesen Stoffen in langen Schlangen anzustehen. Schuhwerk war ebenso ein großes Problem, vor allem für die Kinder. Ich ließ Eisennägel auf die Sohlen nageln um ihre Haltbarkeit zu verlängern, unser pommerscher Landwirt verstand sich darauf, Schuhe aus alten Autoreifen anzufertigen, im "HO"(Handelsorganisation) gab es gelegentlich "Igelit"-Latschen. In unserem Dorfe gab es damals noch viele Spinnräder und die alten Frauen konnten gut spinnen. Ich besorgte mir ein altes Spinnrad, ließ es reparieren und erbettelte mir von denjenigen Bauern, die Schafe besaßen, sogenannte "Dreckwolle", also Wolle direkt vom Schaf, die mindestens fünf Mal gewaschen werden mußte, danach gezupft wurde und damit zum Spinnen bereit war, eine Arbeit von mehreren Tagen. Das Erlernen des Spinnens war gar nicht so einfach, hat mir dann aber viel Spaß gemacht. Allerdings waren die auf diese Weise hergestellten Strümpfe und Pullover bei meinen Kindern ziemlich verhaßt, da sie kratzten.

"Primitiv, mühselig, aber glücklich"

So lebten wir sieben Jahre lang mit schließlich vier Kindern im Rhythmus der Jahreszeiten, primitiv, mühselig oft, aber eigentlich nicht unglücklich, am wenigsten ich, die ich die Möglichkeit herausgefunden hatte im 10 km entfernten Nordhausen ein Studium der Kirchenmusik aufzunehmen und abzuschließen. Unter welchen abenteuerlichen Umständen wir dann aus der "Ostzone" wieder herauskamen, ist eine andere Geschichte.

Empfohlene Zitierweise:
Bruch, Dagmar: Umzug von Göttingen in die "Ostzone", in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/dagmar-bruch-umzug-von-goettingen-in-die-ostzone.html
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