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Detlef Sennholz: Alkoholkonsum und -missbrauch und DDR-Kultur

Dieser Beitrag wurde von Detlef Sennholz (*1950) 2024 verfasst.

Schlüsselerlebnis: „Niemals im Leben besaufen“

Frühjahr 1969, als Schüler der Abiturklasse [hatte ich] noch keinen Studienplatz. Vorstellungsgespräch an der TH in Magdeburg. Danach dort auf dem Hauptbahnhof, warten auf den Zug für die Rückfahrt. Auf dem nächsten Bahnsteig stand ein Zug mit recht vielen russischen Soldaten. Einige von diesen hatten auf dem Kiosk unseres Bahnsteigs sich mit Getränken versorgt. Ein Soldat, schon ziemlich betrunken, wollte nicht über Treppe und Tunnelunterführung zu seinem Zug zurück. Stattdessen sprang er runter auf die Schienen, um sofort in seinen Zug einzusteigen. Obwohl in diesem Moment bereits unser Zug in den Bahnhof einfuhr. Der Lokführer betätigte sofort das Warnsignal und die Notbremse. Davon erschrocken, versuchte der Soldat zurück auf den Bahnsteig zu klettern, aber der Lokpuffer erwischte ihn noch an einem Bein. Weshalb ich mich abwendete. Danach konnte ich nur bemerken, dass der Soldat durch den Aufprall gegen die Mauer vom Kiosk geschleudert wurde, zwei Kameraden ihn aufhoben und zu seinem Zug brachten. Danach stand für mich fest, mich niemals im Leben zu besaufen!

Alkoholiker-Kollege und „negative Kollegialität“

1977/79 in einem großen Betriebslaborkomplex im CFP [Chemiefaserwerk Premnitz, Anm. d. Red.]. Bis auf vier Männer reiner Frauenbereich. Zeitweise dort als stellvertretender HA-Leiter [Hauptabteilungsleiter, Anm. d. Red.] tätig. In einem Labor arbeitete Herr S. als Laborant. Er war vorher in einem Forschungsinstitut in Teltow als Chemieingenieur tätig [gewesen]. Wegen Alkoholismus dort entlassen und Studium aberkannt. Zum Zeitpunkt bereits ca. zwei Entziehungskuren hinter sich. Aus persönlichen Gesprächen war mir bewusst, dass er sehr intelligent war. Ein neuer evangelischer Pfarrer hatte eine Gruppe zur Hilfe für "Anonyme Alkoholiker" gegründet. Es gelang mir, ihn zur Teilnahme dort zu überzeugen.

Öfters gab es Brigadefeiern einzelner Laborbereiche, z.T. auf Grundstücken von Beschäftigten. 1978 saßen mal Herr S. und ich nebeneinander am Tisch. Ich glaube, er trank meist Cola. Wir hatten wohl mal beide die Plätze verlassen. Ich war zuerst zurück. Er kam vermutlich von der Toilette zurück und wollte aus seinem Glas weiter trinken. Er bemerkte aber wohl beim Ansetzen Alkoholgeruch, informierte mich und wollte wissen, was er tun sollte! Ich war selbst noch perplexer als er. Wir saßen auf der Rasenfläche. Seine Lösung, als niemand hinter uns war, den Inhalt des Glases über die Schulter schnell ausgekippt.

Diese "negative Kollegialität" unter Arbeitskollegen kann ich bis heute nicht vergessen und verstehen! Leider wurde er danach trotzdem wieder mehrfach rückfällig, ob eigenes Verschulden oder, wie oben erwähnt, "Fremdverschulden" ist mir unbekannt. Er verstarb auch ca. zwei bis drei Jahre später daran.

Erpressbarkeit durch Alkoholkonsum

Frühjahr 1979, ich hatte mich schon unbequem und unbeliebt im CFP [Chemiefaserwerk Premnitz, Anm. d. Red.] gemacht. Bei Bauarbeiten zu Hause einen Finger der linken Hand gebrochen, vom Arzt mit Gipsverband versehen und krankgeschrieben. Dies gefiel meiner Vorgesetzten Frau Dr. W. nicht. Der behandelnde Arzt wurde aufgefordert, mir einen "Schon-Arbeitsplatz" zu verschreiben. Anstatt im eigenen Arbeitsbereich (für Schreibarbeit oder Literaturrecherche) wurde ich zum Bereich der Dederon-Produktion [Dederon ist der Name einer Kunstfaser aus der DDR, Anm. d. Red.] vermittelt. Zwecks Aufsicht an den Spinnmaschinen und entsprechenden Einsatz bei Störungen mittels Händen. Nach zwei Stunden wurde ich von der dortigen Schichtleiterin zurückgeschickt, weil ein Einsatz mit Gipsfinger nicht möglich [sei]; also weiter Krankschreibung. Nach weiterer Woche endlich geheilt und Gesundschreibung. Aber zum Abschied überreichte mir der Arzt eine Überweisung zur Fachärztin für Psychiatrie zwecks Vorstellung. Mit geäußertem Grund, mein Verhalten und Auftreten hätten sich in der letzten Zeit verändert. Aber mit dem Hinweis, die Überweisung anzunehmen, wäre meine freie Entscheidung! Ich hatte keine Bedenken, danach zwei jeweils einstündige Interviews mit der Psychiaterin. Zum Schluß ihre Entscheidung: "Für Sie ist keinerlei Behandlung notwendig"! Auf meine etwas entsetzte Frage, warum ich dann die Überweisung bekam, [lautete] auch ihre Vermutung, dass es mit den Diskrepanzen im Betrieb zusammenhing.

Nach meiner Entlassung Monate später begegnete ich überrascht bei meiner Tätigkeit als Kraftfahrer in einem Warenlager der HO [Handelsorganisation, Anm. d. Red.] einem ehemaligen Kollegen (Chemiker aus dem Bereich Forschung). Dieser war nun nach seiner Entlassung dort als Lagerarbeiter tätig, aber vorher für mehrere Monate stationär in die Psychiatrie-Klinik Neuruppin eingewiesen gewesen.

Erst ein bis zwei Jahre später erfuhr ich von einer ehemaligen Kollegin den Grund und die Ursache für meine Überweisung: Der damals behandelnde Arzt (Diplommediziner) war Alkoholiker und damit durch die Werksleitung in einer Betriebspoliklinik erpressbar. Er sollte und musste alles machen, was man von ihm verlangte; sonst wäre er seinen Job los geworden. In meinem Fall hatten ihn Frau Dr. W. und die Gewerkschaftsvorsitzende des Bereiches kurz vorher "besucht"!

Unbeliebt im Kollegenkreis aufgrund geringen Alkoholkonsums

Nach meiner Entlassung lief ab Oktober 1976 ein mehrjähriger Rechtsstreit durch alle DDR-Instanzen wegen des Einspruchs gegen meine Abschlussbeurteilung. Eine Rechtsanwältin als Bevollmächtigte des Großbetriebes feilschte um den Verbleib jeder schlechten Formulierung und der Verhinderung der Aufnahme positiver Aspekte.

Nach dem ersten Verfahren am BG Potsdam [Bezirksgericht Potsdam, Anm. d. Red.] erfolgte Rückverweisung an das KG Rathenow [Kreisgericht Rathenow, Anm. d. Red.] zur Neuverhandlung. Der dort zuständige Richter verlegte nun die Verhandlung direkt in einen Saal innerhalb des CFP [Chemiefaserwerks Premnitz, Anm. d. Red.], damit auch etliche Arbeitskollegen/-innen teilnehmen konnten. Vermutlich, [nachdem ich beanstandet hatte, dass in meiner Abschlussbeurteilung] keinerlei Angaben über außerbetriebliche Teilnahmen am Kollektivleben enthalten waren. Darauf die Frage des Richters an die Zuhörer! Eine Antwort seitens der Cheflaborantin [der] Wolpryla-Altanlage [Wolpryla ist ein DDR-Neuwort für eine wollähnliche, synthetische Textilfaser, Anm. d. Red.]: „Der würde ja bei Kollektivfeiern uns nur beobachten!“ Meinerseits nur unschlüssiges Kopfschütteln darauf. Dann konnte sich aber die FDJ-Sekretärin Fräulein W. nicht zurückhalten und äußerte: "Der trinkt ja nichts!" Darauf sofort meine Wortmeldung: "Herr Vorsitzender, das stimmt nicht. Den Kollegen gefällt nur nicht, dass ich eben nur ein bis zwei Glas trinke"! […]

Alkoholkonsum und „Sozialistische Leistungstätigkeit“

Mai 1980: Ich hatte während des noch laufenden Arbeitsrechtsstreit endlich wieder eine Festanstellung. Einige Monate als Versandleiter in einer Großbäckerei. Einteilung und Aufsicht über den Schichtdienst der Einpacker und Beifahrer für die Versorgungseinrichtungen. Arbeitskräfte Mangelware, oft ungelernte Männer, in anderen Betrieben wegen Alkohol entlassen, welche dann auf Anordnung vom Rat des Kreises eingestellt werden mussten. Öfters kamen welche zum Antritt der Frühschicht nicht. Dann war es auch meine Aufgabe, mit dem Rad zu denen nach Hause zu fahren, zwecks Kontrolle und Arbeitsaufforderung. Wenn sie dann noch stockbesoffen im Bett lagen, blieb mir nichts weiter übrig, als ihre Arbeit selbst auszuführen. Eben sozialistische Leitungstätigkeit!

Betrunkener Gruppenführer bei der motorisierten Schützentruppe

1983, die DDR-Regierung hatte sich sogenannter "ungedienter Reservisten" für den Armeedienst erinnert, alles 30- bis 40-jährige Uni- und Hochschulkader. Also musste auch ich für drei Monate zum Mot.schützen-Regiment [motorisierte Schützentruppe in der DDR, Anm. d. Red.] nach Schwerin. "Ausgang" gab es nur für den Gruppenführer, einen 18-jährigen Gefreiten. Wenn dieser nachts besoffen vom Ausgang zurückkam, drangsalierte er oft die gesamte schlafende Zimmergruppe mit Befehlen. Als er mal gegen mich handgreiflich wurde, wehrte ich ihn ab. Mit dem Ergebnis für mich: "Schriftlicher Verweis wegen tätlichen Angriffs gegen einen Vorgesetzten" und Aussprache beim Kommandeur, inkl. zivilen Stasi-MA [Mitarbeiter, Anm. d. Red.]. Um weiteren Angriffen zu entgehen, hatte ich Wehrdienstverweigerung angedroht, falls ich nicht in eine andere Kompanie versetzt würde. Zum Glück hat man dem Wunsch entsprochen!

Zur Person

Detlef Ingolf Sennholz wird 1950 in Weißenfels (Sachsen-Anhalt) geboren. Ab 1957 besucht er die Grundschule in Weißenfels und anschließend ab 1965 die Erweiterte Oberschule Lützen, die er 1969 mit dem Abitur abschließt. Parallel zur Erweiterten Oberschule absolviert er eine Berufsausbildung zum Chemielaborant im Hydrierwerk Zeitz. Im Anschluss studiert Detlef Sennholz an der Technischen Hochschule für Chemie in Merseburg. Ab1973 arbeitet er im Chemiefaserwerk in Premnitz, wo er 1976 leitender Chemiker des Zentralen Betriebslabors wird. Als Sennholz 1979 mit einer schlechten Beurteilung entlassen wird, beginnt er einen Arbeitsrechtsstreit, der bis zum Obersten Gericht der DDR verhandelt wird. Da Sennholz als Folge nicht mehr in seinem Ausbildungsberuf tätig sein kann, arbeitet er zunächst als Kraftfahrer und Sargtischler, ab Mitte 1980 bis 1985 ist er im kaufmännischen und wirtschaftlichen Bereich des Konsum Backwarenkombinats Potsdam tätig. Für Familienbesuche erhält er 1988/89 zweimal eine Reiseerlaubnis in den Westen. Ab 1990 arbeitet er für verschiedene Versicherungen, bis er im Jahr 2000 nach Norditalien auswandert.

Empfohlene Zitierweise:
Sennholz, Detlef: Alkoholkonsum und -missbrauch und DDR-Kultur, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/detlef-sennholz-alkoholkonsum-in-der-ddr.html
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