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Dominic Otto: Interview mit einem Zeitzeugen

Dieser Beitrag wurde von Dominic Otto (*1981) verfasst. Er führte ein Zeitzeugen-Interview mit einem Bekannten seiner Familie (Jahrgang 1957) aus Wolfenbüttel.

Hatten sie mit dem Mauerfall gerechnet?

Für mich war spätestens nach dem Besuch Gorbatschows in der DDR und nach dem Fall des Eisernen Vorhanges in Ungarn klar, dass es auch kurz- bis mittelfristig in der DDR zu einschneidenden Änderungen kommen würde, z.B. eine wesentlich liberale Besuchs- und Reiseregelung (d.h. Reisen ins "nicht - sozialistische Ausland"). Gorbatschow betonte bei seinem letzten Besuch in Ost-Berlin, dass er sich nicht in die innenpolitischen Angelegenheiten der DDR einmischen werde. Von ihm stammt auch der Spruch:"Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben", was er in Zusammenhang mit der Reformbewegung in der Sowjetunion sagte. Dies wurde von der Presse als Anspielung auf die innenpolitischen Verhältnisse der DDR angesehen.

In der DDR gab es damals aus meiner Sicht zwei Oppositionsbewegungen, die eine bestand aus denjenigen Menschen, die das Land aus politischen und/oder aus materiellen Gründen verlassen wollten. Die andere Gruppe wollte die bestehen politischen Verhältnisse ändern (Demokratischer Sozialismus). Diese Bewegung, die vor allem aus bürgerlichen und intellektuellen Kreisen bestand, postulierte ihre Proteste im Schutz der Kirche, besonders im dem der Evangelischen (Montagsgebete). Nachdem die Flüchtlingswelle über die Bruderstaaten der DDR, Ungarn und die Tschechoslowakei, immer größer wurde und die bundesdeutsche Botschaft in Prag Anlaufpunkt hunderter Flüchtlinge wurde, die nach den Vermittlungsbemühungen des damaligen Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher in die Bundesrepublik ausreisen durften, wurde die Opposition in der DDR immer stärker. Als Folgen von Honeckers Rücktritt und der Umgestaltung des Politbüros war für mich eine liberale Ausreiseregelung/Besuchsregelung nur noch eine Frage der Zeit. Deshalb kam für mich die Grenzöffnung gar nicht überraschend, zumal die DDR Regierungskräfte schon vorher hilflos und hektisch agierten oder eher nur noch reagierten.

Wie und wo haben Sie den Mauerfall erlebt?

Den entscheidenden Moment habe ich zu Hause in Wolfenbüttel am Fernseher gesessen, wo in der Tagesschau von der Pressekonferenz mit Günter Schabowski berichtet wurde, der eine unbürokratische Reiseregelung für jeden DDR-Bürger "ab sofort" ankündigte. Nachts als die Grenze geöffnet wurde, verfolgte ich die Ereignisse am Radio. Da Wolfenbüttel sehr nahe an der ehemaligen Grenze liegt, fielen nach der Grenzöffnung sehr schnell die DDR-Autos (Trabbis) auf. Mich hat damals vor allem der kommerzielle Trubel aufregt, der die positiven Folgen der Grenzöffnung für die DDR-Bevölkerung aus rein materieller Sicht sah. Ich erinnere mich dabei negativ an die Bananen - Lkws in der Fußgängerzone von Wolfenbüttel, gesponsert von einer hiesigen Zeitung, und auch die Jägermeisteraktion (Parkplatz + kostenlose Verpflegung). Denn für mich waren die Grenzöffnung und die politischen Veränderungen in der DDR wesentlich und nicht ausschließlich die materiellen Vorteile für die DDR Bevölkerung.

Wie waren Ihre Empfindungen über das auf die Grenzöffnung folgende Geschehen?

Was ich zusätzlich als negativ empfand, war das Vereinnahmen der Grenzöffnung und deren Folgen durch die Bundespolitik, vor allem durch die Regierungskoalition unter Helmut Kohl. Diejenigen Kräfte, die sich um die Veränderungen in der DDR verdient gemacht haben, versammelten sich später vor allem im "Bündnis '90", wurden aber schnell vergessen, was sich später in der ersten Bundestagswahl nach der Wiedervereinigung in den Wahlergebnissen niederschlug. Wenn heute in der Parteispendenaffäre über Helmut Kohl geschrieben oder gesprochen wird, werden, trotz seines Fehlverhaltens, seine Verdienste um die Wiedervereinigung hervorgehoben. Doch nach meiner Auffassung hat er das nicht verdient, da er nur auf einen fahrenden Zug aufsprang, den er mit materiellen Versprechungen unter Dampf hielt.

Trotzdem waren für mich die Veränderungen in der DDR insgesamt natürlich positiv, da die Menschen viele bürgerliche Freiheiten (zurück)erhielten. Außerdem war dies eine Symbol für das Ende des "Kalten Krieges", die atomare Bedrohung, die ich gerade nach der Aufrüstung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt (SS 20 und Pershing II) empfand, wich schlagartig. An der folgenden Wiedervereinigung führte unter den gegeben Voraussetzungen für mich kein Weg vorbei, weil ein Großteil der DDR Bevölkerung in erster Linie die gleichen materiellen Zustände anstrebte, wie sie in den alten Bundesländern herrschten. Positiv war für mich an der Wiedervereinigung auch das Ende schlimmster ökologischer Zustände, z.B. durch industrielle Umweltverschmutzung und die Abschaltung von Atomkraftwerken (Greifswald).

Empfohlene Zitierweise:
Otto, Dominic: Interview mit einem Zeitzeugen, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/lemo/zeitzeugen/dominic-otto-interview-mit-einem-zeitzeugen.html
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