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Dorothea Günther: Der Kampf ums Überleben

Dieser Beitrag wurde von Dorothea Günther geb. Preuß (1914–2010) aus Berlin verfasst.

[Dieser Zeitzeugenbericht enthält Inhalte, die einige Menschen möglicherweise als verstörend oder belastend empfinden können.]

Auf Arbeitssuche für eine bessere Nahrungszuteilung

17.05.1945 Inzwischen hat es Lebensmittelkarten gegeben. Die Rationen sind jämmerlich. Wichtig ist Arbeit und damit eine bessere Zuteilung zu kriegen. Martin [Anm. d. Red.: Ehemann von Dorothea Günther] hat eine Stellung als Polizist bekommen, er trägt eine Armbinde mit russischer Aufschrift: Ochrana. Die Polizei hat einige Vollmachten bzw. die Männer maßen sie sich an. Martin erlebt schlimme Übergriffe, ihm wird angst und bange und er gibt die Stelle wieder auf.

Bald darauf fand er Anschluss an eine Gruppe, die in Potsdam wieder einen Busbetrieb einrichtete. Im Wald hatten die Männer einen noch nicht ausgeschlachteten Bus gefunden, der wurde ihre Grundlage. Martin arbeitete eine Art Exposé aus, reichte es ein und der Busbetrieb wurde genehmigt. Der reparierte Omnibus lief auch tatsächlich.

Zu meinem Geburtstag am 1. Juni hatte Elfriede [Anm. d. Red.: Schwägerin von Dorothea Günther] einen Kuchen beigesteuert. Als Gast war eine russische Fürstin da, eine Emigrantin, die ihr Land während der russischen Revolution verlassen hatte und seitdem in Potsdam lebte. Und so saßen wir beisammen, als wir plötzlich von der Straße wildes Geschrei, Hufgetrappel und das Brüllen von Kühen hörten. Viele hundert Kühe wurden in unserer Straße zum Bahnhof getrieben, um auf die weite Reise nach Russland geschickt zu werden. Die Soldaten umkreisten die Kühe und schlugen mit Peitschen wild auf sie ein. Die Fürstin war hell empört, allerdings nur darüber, dass die Pferde in so wildem Tempo über das Pflaster gejagt wurden. Meine Wut und Verzweiflung richtete sich darauf, dass vor unseren Augen die Ernährungsgrundlage unseres Kindes – der Geburtstermin lag Anfang Juli – davonzog. Nicht eine einzige Kuh blieb in den umliegenden Dörfern zurück.

Am Wochenende nach meinem Geburtstag wollten wir uns etwas Besonderes leisten, wir gingen ins Kino. Der Film „Der verkaufte Großvater“ wurde [gezeigt], ein entsetzlicher Schmarrn. Als Trost leisteten wir uns anschließend eine ganze Büchse Fleisch. Wir wurden beide völlig satt und waren rundherum zufrieden.

Die ständige Suche nach Nahrung

In den Tagen danach wurde es unerträglich heiß. Ich fühlte mich schlecht. Herzbeschwerden, Erschöpfung, Schmerzen, und das Kind war sehr unruhig. Bisher hatte ich alle Hamstertouren tapfer mitgemacht, auch wenn der Erfolg oft kaum im Verhältnis zum Kraftaufwand stand. Dreimal waren wir vergeblich in Rehbrücke, erst beim vierten Mal bekamen wir ein paar Kohlrabi und Blumenkohl.

Eines Tages, als Martin im Dienst war, musste ich ganz schnell unsere letzten armseligen Reste aus dem Keller räumen. Ich hatte mitbekommen, dass die Russen in den Nebenkeller von Frau von N. eingedrungen waren und alles Brauchbare geraubt hatten. Sie war so verzweifelt, dass sie versuchte, sich das Leben zu nehmen. Sie stürzte sich in die Havel, wurde aber wieder herausgefischt.

Lulu S., eine junge Frau aus unserem Haus, feierte ihren 20. Geburtstag und wir waren zu dieser merkwürdigen Feier eingeladen. Es gab richtigen Sekt! Mir bekam er nicht, ich bekam schreckliches Sodbrennen. Die Familie S., Flüchtlinge aus Ostpreußen, waren materiell beneidenswert gut gestellt. Lulus Großvater war ein bekannter österreichischer Literat und Literaturhistoriker. Die Familie wurde mit Paketen aus dem Ausland unterstützt und Tantiemen sollten auch schon fließen.

Bald stellte sich heraus, dass man Mutter und Tochter nicht trauen durfte. Ihre Hauptbeschäftigung schien zu sein, Bekanntschaften zu knüpfen, um viel über andere Leute und ihre Vergangenheit zu erfahren. Ich war überzeugt, dass sie Agenten des NKWD waren. Lulu hat später studiert und den Sohn des Justizministers geheiratet.

Der Hunger war schlimm. Wer keine Beziehungen zu Bauern oder Gärtnern hatte und nichts zum Tausch anbieten konnte, litt auch sehr an Vitaminmangel. Manche aßen Melde. Sie wuchs wie auch Vogelmiere und Brennesseln auf den Schuttbergen und Trümmern; mit ihrem gelben Blütenschleier verdeckte sie das Elend ein wenig. Gekocht ähnelt der Geschmack Spinat, aber sie greift die Leber an. Die Menschen bekamen eine gelbliche Gesichtsfarbe. Es soll Todesfälle gegeben haben.

08.06.1945 Eine Stunde nach einer Zeitung angestanden. Martin hat sich beim E-Werk beworben, hat aber eine Absage bekommen. Die Lehrerentlassungen beginnen. Unseren Nachbarn, einen Studienrat, trifft es. Es werden Hilfskräfte für den Lehrerberuf gesucht, ich interessiere mich dafür.

20.06.1945 Vergeblich nach einer Zeitung herumgelaufen. Martin fährt ab und zu nach Berlin, schafft es aber nicht nach NO 55 zu meiner Mutter. Ich würde mich am liebsten selbst auf den Weg machen, aber wie in meinem Zustand?

Ganz nah an den „großen Drei“

02.07.1945 Die „großen Drei“, die Staatslenker der Siegermächte, werden in Potsdam tagen. Sie werden durch unsere Straße fahren, deshalb werden die Schutt- und Trümmerberge im Eiltempo abgebaut und neue Fassaden errichtet – Potemkinsche Dörfer. Unsere drei großen Zimmer, die alle zur Straße heraus liegen, werden versiegelt. Wir könnten ja ein Attentat verüben! Wir haben nur noch die Küche, eine kleine Mädchenkammer und das Bad. Wir müssen nun zu zweit in einem schmalen Bett schlafen. Und ich allein brauche doch schon Platz für zwei! Das nächtliche Ausgehverbot wird verschärft, aber Martin ergattert eine Sondergenehmigung für den Fall, dass ich nachts in die Klinik muss.

Vermeintlicher Schwarzmarktbesuch und Geburt von Matthias

Elfriede lag uns schon lange in den Ohren, dass wir sie auf den Schwarzmarkt begleiten sollten. Beim Plündern eines Schuhgeschäftes hatte sie zwei linke Schuhe erwischt. Sie wollte versuchen, die Schuhe einem Russen anzudrehen und hoffte, dafür Butter zu bekommen. An dem Abend, als wir verabredet waren, warteten wir vergeblich an der verabredeten Stelle. Plötzlich wurde Martin von einem Rotarmisten aufgefordert, zur Kommandatura mitzukommen. Ich lief hinterher. Er wurde dem üblichen Verhör unterzogen, das in etwa so ablief:

„Du Partei?“

„Nein, ich bin nie Parteimitglied gewesen.“

„Du lügen, du doch Partei!“

„Nein, ich nicht in Partei gewesen.“

„Du aber Faschist!“

„Nein, ich nicht Faschist, ich Antifaschist!“

„Du lügen, du doch Faschist!“

Auf dieser Basis pflegten sich Verhöre endlos hinzuziehen. Ich bekam beim Warten ein ungutes Gefühl in der Bauchgegend, ging ins Vorzimmer und forderte laut meinen Mann zurück, weil ich doch schwanger sei. Die Dolmetscherin kam aus dem Verhörzimmer herausgeschossen. Ich wurde noch lauter: „Sie können mir doch jetzt nicht meinen Mann wegnehmen!“ Endlich gaben sie Martin frei. Wir rannten nach Hause und gingen ins Bett. Eine halbe Stunde später begannen die Wehen. Wir machten uns im Dunkeln fertig, tasteten uns durch den Korridor, ich vorweg, Martin mit Köfferchen hinterdrein. Plötzlich kriegte ich einen Stoß von dem Koffer in die Kniekehlen, so dass ich zu Boden ging und dachte: „Jetzt ist es soweit.“ Doch ich rappelte mich wieder hoch. Draußen nieselte es. Schon bald näherten sich zwei russische Offiziere unter einem Schirm: „Stoy, stoy!“ Umständlich lasen sie die Bescheinigung, warum ich unterwegs sei. Eine heftige Wehe ließ mich aufstöhnen, das war eindrucksvoller als jedes Schriftstück. Wir durften passieren.

Die Klinik war verschlossen, wir klopften und riefen, aber es wurde nicht aufgemacht. Dann geisterte eine brennende Kerze hinter der Glasscheibe hin und her. Drinnen hatte man endlich mitbekommen, dass Deutsche vor der Tür standen. Wir erfuhren, dass kürzlich betrunkene Russen nachts in die Klinik eingedrungen seien und sich über die frisch entbundenen Frauen hergemacht hätten, auch über kranke Frauen.

Die Hebamme kam und die Wehen hörten prompt auf. Sie gab mir eine Spritze, dann begannen wir zu wandern. Stunde um Stunde liefen wir durch die Klinik. Endlich wurde es hell und der Morgenbetrieb begann. Plötzlich hörte ich lautes Schluchzen und Weinen aus einem Zimmer. Eine Stimme sagte: „Nun ist das Kind auch noch gestorben. Wo doch schon der Mann gefallen ist!“

Endlich hatte die Hebamme ein Einsehen und ich durfte mich im OP hinlegen. Ich bekam noch eine Spritze und ein paar Verhaltensregeln, dann ließ mich die Hebamme allein; sie musste frühstücken und sich ausruhen. Als die Presswehen einsetzten, war das Kleine nach kurzer Zeit plötzlich da. Es lag zappelnd zwischen meinen Beinen. Die Hebamme kam, nahm das Baby hoch und klopfte es kräftig, immer wieder, aber es wollte keinen Laut von sich geben. Endlich der erlösende Schrei, es atmete!

Man sagte mir, es sei ein sehr zierliches Kind, es wog nicht einmal fünf Pfund. Doch ich war glücklich über meinen Matthias. Elfriede besuchte mich und brachte ein klitzekleines Kartoffelpüfferchen mit. So gut hat mir im Leben noch keines geschmeckt! Auch Lulu S. und ihre Mutter kamen. Sie erzählten von ihren Hamstertouren auf die Dörfer.

Der Tod von Matthias

Ich konnte den Kleinen nicht richtig stillen. Er bemühte sich auch kaum zu saugen, er war recht schwach. Die Schwester kniff ihn in die Bäckchen, er wurde wach, saugte kurz und schlief wieder ein. Ich roch, dass er sich übergeben hatte. Die Schwester beruhigte mich, das habe nichts zu sagen. Ich wollte ganz schnell nach Hause, damit ich mich selbst um mein Kind kümmern konnte.

Aber zu Hause ging die Spuckerei weiter. Wir suchten nach einem Kinderarzt, vergeblich. Die Ärzte waren entweder geflüchtet oder erschossen worden. Endlich fanden wir doch einen. Als er Matthias untersuchte, sagte er: „Den kriegen sie nicht durch.“ Wir gaben die Hoffnung nicht auf, flößten dem Kleinen Kräutertee ein. Martin holte das Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ hervor und legte Tabellen an, wie viel der Kleine zu jeder Mahlzeit bekommen sollte und wie viel er tatsächlich zu sich nahm. In dem Buch stand, Kinder mit Erbrechen sollten möglichst wenig bewegt werden. Nur noch ganz behutsam durfte ich den Kleinen wickeln. Ein Facharzt für Homöopathie kam. Er fragte uns, seit wann das Kind so greisenhaft aussehe. Fassungslos starrte ich ihn an. Mein kleiner Matthias greisenhaft?

Nun wurde der Kleine warm angezogen mit Wollgarnitur, Wollmützchen und Handschuhen, und im Bett von Wärmflaschen umgeben. Alle zwei Stunden, Tag und Nacht, bekam er homöopathische Tropfen. Von Tag zu Tag hofften wir, dass er widerstandsfähiger werden und seine Krankheit überwinden möge. Eine Bekannte, deren Kind, drei Tage älter, gerade gestorben war, schaute den Kleinen an und gab mir die Adresse eines Tischlers, der sargähnliche Kisten herstellte.

25.07.1945 Ich merke, dass Matthias im Sterben liegt. (...)

27.07.1945 Eine Sonderzuteilung von einem halben Pfund Butter für Babys und Kleinkinder wird aufgerufen. Martin besteht darauf, dass ich die Zuteilung hole. Erst weigere ich mich, aber dann gehe ich doch. Die Frau im Laden fragt mich, wie es dem Kleinen geht. Für ein halbes Pfund Butter habe ich mein Kind verleugnet, wie Judas Ischariot.

Wir gingen auf den Friedhof, um eine Grabstelle zu besichtigen. In der nahen Friedhofskapelle sangen Kinder „Gott, der Herr, hat an allem seine Lust und Wohlgefallen, kennt auch dich und hat dich lieb, kennt auch dich und hat dich lieb.“ Bei diesem Gesang fand ich Trost, endlich öffneten sich die Tränenschleusen.

Ich war wie versteinert in meiner Trauer. Freunde brachten Hortensien. Nun war Matthias in Blüten gebettet. Der Tischler brauchte lange, um die Kiste anzufertigen, dafür war sie weiß gestrichen. Dicke schwarze Fliegen umschwirrten den Kleinen.

Inzwischen war es August geworden. Eines Tages kam ein junger Rotarmist in unsere Küche und bat um ein Glas Wasser. Als er den leeren Babykorb sah und hörte, dass der Kleine gestorben war, wurde er ganz traurig. Er erzählte, er habe das Baby nächtelang weinen hören, und auch ein anderes Kind, das war inzwischen an Gehirnhautentzündung gestorben.

Ich kannte diesen Soldaten von den Nächten her, wenn ich bei dem Kleinen wachte. Vor unserer Wohnung stand eine Rotarmistin auf der Kreuzung auf einem Podest und regelte Fähnchen schwenkend den Verkehr. Der Soldat hatte sich nachts, wenn kein Verkehr war, zu ihr gesellt und die beiden hatten stundenlang geredet, gelacht und gealbert. Sie verkörperten mit ihrem so sorglos scheinenden Verhalten für mich die Dinge, die mir unwiederbringlich verloren schienen: Unbefangenheit, Sorglosigkeit und Übermut.

Zur Person

Dorothea Günther (geb. Preuß) wird am 1. Juni 1914 als Tochter des Gewerbeoberlehrers Paul Preuß in Berlin geboren. Als 14-Jährige Schülerin nimmt sie 1929 am ersten deutsch-französischen Jugendaustausch der „Deutschen Liga für Menschenrechte“ teil, sie lebt sechs Wochen bei einer französischen Familie in Paris. Nach der Mittelstufe besucht Dorothea Günther das Lette-Haus, eine Höhere Handelsschule für Mädchen, wo sie intensiv Fremdsprachen lernt, ebenso Stenographie und Schreibmaschine. Sie arbeitet als Büroangestellte, später auch als Fremdsprachenkorrespondentin. Von 1941 bis Januar 1945 ist sie beim Auswärtigen Amt als Übersetzerin tätig. Sie tritt 1941 in die NSDAP ein, um die Stelle im Auswärtigen Amt zu bekommen. 1943 heiratet sie den Diplom-Ingenieur Martin Günther und zieht nach Potsdam. Ihr erstes Kind stirbt 1945 wenige Wochen nach der Geburt. 1948 und 1951 werden zwei weitere Kinder geboren. Anfang 1949 verlässt die Familie die Sowjetische Besetzungszone. Sie wohnen zunächst in Braunlage und ab 1950 in Hannover. 1959 beginnt Dorothea Günther eine Kurzausbildung zur Grundschullehrerin und arbeitet bis zu ihrer Rente in diesem Beruf. Sie stirbt im Jahr 2010.

Empfohlene Zitierweise:
Günther,Dorothea: Der Kampf ums Überleben, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/dorothea-guenther-der-kampf-ums-ueberleben.html
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