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Dorothea Günther: Die ersten Wochen unter sowjetischer Besatzung

Dieser Beitrag wurde von Dorothea Günther geb. Preuß (1914–2010) aus Berlin verfasst.

[Dorothea Günther befindet sich zu Beginn des Textes in Potsdam, das seit Ende April 1945 von sowjetischen Truppen besetzt ist. Auch in Dorothea Günthers Haus sind zu diesem Zeitpunkt sowjetische Soldaten einquartiert.]

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Die ersten Tage nach Kriegsende

Es gibt Gerüchte über ungeheure Reparationen. Die Demontagen haben bereits begonnen. Nicht nur Industriewerke und Gleisanlagen werden demontiert, sondern es werden auch Wohnungen und Häuser von Leuten, die in die Westzonen geflüchtet sind, ausgeräumt. Sessel, Sofas, Bilder, Teppiche, Klaviere, alles wird auf Lastwagen geladen, zum Bahnhof gekarrt und auf offene Güterwagen verladen. Wie lange werden die Züge wohl bei Wind und Wetter unterwegs sein?

11.05.1945 Wir versuchen, den alten Küchenherd anzuheizen, der seit Jahren nicht mehr benutzt wurde. Der Schornstein ist verstopft, der Rauch schlägt zurück; dann kommt das Feuer mit dem erbeuteten Generatorholz doch in Gang. Nun kann ich mich das erste Mal seit langer Zeit wieder gründlich waschen. Mein Bauch hat beträchtlich an Umfang zugenommen, obwohl wir doch kaum etwas zu essen haben. Ich genieße warmes Wasser und Seife! Der Duft von Baumharz von brennenden Kiefernwäldern dringt durch das offene Fenster.

Noch immer keine regelmäßigen Lebensmittelzuteilungen. Wir hören, dass der Bäcker eine Mehlzuteilung bekommen hat und backen wird. Wir stehen Schlange vor dem Bäckerladen. Es ist ein heißer Tag. Eine Stunde stehen wir schon, als jemand auf mich weist und sagt: „Lasst doch die arme Frau mal vor, die ist schwanger.“ Jemand anders entgegnet: „Wozu denn, lass sie doch ausbaden, was sie sich eingebrockt hat. Die wollte dem Adolf doch nur ein Kind liefern.“ Heulend renne ich weg.

Schlechte Versorgungslage und Hamsterfahrten

13.05.1945 Herrliches Wetter! Der Herrgott scheint viel an uns gutzumachen zu haben. Wir ziehen auf die Dörfer, um Kartoffeln zu ergattern. Manche Hamsterfahrt wird zu einer wunderschönen Frühlingstour durch frischgrünen Wald an Havel und Jungfernsee entlang. Wenn uns nur nicht die Not im Nacken säße! Kartoffeln bekommen wir nicht, aber Rhabarber und jede Menge Kopfsalat. Na, wenigstens haben wir Zucker für den Rhabarber. Salat nur mit Zucker angemacht schmeckt nicht besonders, aber die Vitamine sind wichtig fürs Überleben.

In der folgenden Zeit kamen wir mehr schlecht als recht über die Runden. Kartoffeln fehlten allzu sehr! Auf der Jagd danach zogen wir in die umliegenden Kasernen. Einmal verschwand Martin [Anm. d. Red.: Ehemann von Dorothea Günther] in einem Gebäude. Ich blieb, den Handwagen bewachend, zurück, zusammen mit anderen. Plötzlich Hufgetrappel, Russen galoppierten auf den Hof und fingen sofort an, wild zu schießen. Die Plünderer stürzten aus der Kaserne und wir mussten uns alle in Reih und Glied aufstellen. Man machte uns klar: „Kaserne alles russisch, nix deutsch. Ihr auf Kommandantura gehen, Strafe kriegen, dawai, dawai!“ Gehorsam zogen wir zum Tor hinaus. Dann rannten wir blitzschnell auseinander und verstecken uns im Wald. Martin erzählte, dass er gerade in dem Moment, als die Schießerei begann, einen Haufen Kartoffeln entdeckt hatte. Schade! In die Kaserne trauten wir uns nicht mehr.

Meine neue Aufgabe war es, den russischen Offizieren, die in unserer Wohnung lebten, als Putz- und Küchenfrau zu dienen. Oft brachten sie große Pakete mit Salzheringen mit, die erst einmal in durchweichtem Zeitungspapier stundenlang auf meinem guten Palisanderbuffet lagen. Beim Zurechtmachen der Heringe merkte ich, dass sie nicht lange genug gewässert worden waren, sie verursachten großen Durst. Aber das störte niemanden, gab es doch genug Wodka! Der Chauffeur der Russen, ein Deutscher, hielt tapfer mit. Eines Nachts musste er ihnen den preußischen Parademarsch beibringen. Als die Russen den Marsch, brüllend vor Lachen, probierten, dröhnte und klirrte alles und die Lampen schwangen hin und her.

Zur Person

Dorothea Günther (geb. Preuß) wird am 1. Juni 1914 als Tochter des Gewerbeoberlehrers Paul Preuß in Berlin geboren. Als 14-Jährige Schülerin nimmt sie 1929 am ersten deutsch-französischen Jugendaustausch der „Deutschen Liga für Menschenrechte“ teil, sie lebt sechs Wochen bei einer französischen Familie in Paris. Nach der Mittelstufe besucht Dorothea Günther das Lette-Haus, eine Höhere Handelsschule für Mädchen, wo sie intensiv Fremdsprachen lernt, ebenso Stenographie und Schreibmaschine. Sie arbeitet als Büroangestellte, später auch als Fremdsprachenkorrespondentin. Von 1941 bis Januar 1945 ist sie beim Auswärtigen Amt als Übersetzerin tätig. Sie tritt 1941 in die NSDAP ein, um die Stelle im Auswärtigen Amt zu bekommen. 1943 heiratet sie den Diplom-Ingenieur Martin Günther und zieht nach Potsdam. Ihr erstes Kind stirbt 1945 wenige Wochen nach der Geburt. 1948 und 1951 werden zwei weitere Kinder geboren. Anfang 1949 verlässt die Familie die Sowjetische Besetzungszone. Sie wohnen zunächst in Braunlage und ab 1950 in Hannover. 1959 beginnt Dorothea Günther eine Kurzausbildung zur Grundschullehrerin und arbeitet bis zu ihrer Rente in diesem Beruf. Sie stirbt im Jahr 2010.

Empfohlene Zitierweise:
Günther,Dorothea: Die ersten Wochen unter sowjetischer Besatzung, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/dorothea-guenther-die-ersten-wochen-unter-sowjetischer-besatzung.html
Zuletzt besucht am: 05.11.2024

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