Zeitzeugen > Nachkriegsjahre

Florentine Brendecke: Das erzähle ich Mutti

Dieser Eintrag wurde von Florentine Brendecke (*1929) im August 2002 in Henstedt-Ulzburg verfasst.

"Strandgut"

Ende April 1945 bin ich - sozusagen als Strandgut - der Familie K. in Duvenstedt zugefallen. Die K.'s gehörten für mein damaliges Verständnis zu den "feinen" Leuten. Ich, 15 Jahre alt, kam aus einer Arbeiterfamilie. In Ostpreußen hatte ich acht Jahre die Volksschule besucht. Von dieser Zeit fehlten etliche Monate. In einem strengen Winter fiel die Schule aus, weil es keine Kohlen gab. Ein anderes Mal waren die Schulräume für lange Zeit von Frauen belegt, die für unsere Soldaten warme Kleidung nähten, Socken strickten oder stopften. Unser Zuhause war eng gewesen. Mit Messer und Gabel zu essen, war mir fremd. Und dann lebte ich plötzlich, ohne mein Zutun, in einem großen Haus, bei feinen Leuten, im eigenen Zimmer.

Von Hausarbeit hatte ich keine Ahnung, und die sollte ich dort leisten. Fremde Namen für Gegenstände machten mir das Leben schwer: Handeule für Handfeger, Leuwagen für Schrubber, Fahrtuch für Wischtuch, Feudel für Bodenwischtuch. Was bedeuteten sie? "Nicht mal einen Tisch kannst du decken", schimpfte Frau K. Und ihr Gesicht rötete sich. "Was kannst du überhaupt? Du Pollackenkind", hörte ich mehrmals täglich. Wie sehr ich mich auch mühte, nichts machte ich ihr gut genug. Hatte ich Staub gewischt, fuhr sie mit ihrem Finger über die Fußleisten, zeigte mir den angeblichen Schmutz und bewies mir damit, wie nutzlos ich war.

Heimweh

Fast jeden Abend weinte ich mein Kissen nass vor Heimweh und Empörung. Das "Pollackenkind" hatte mich zutiefst gekränkt. Mir war in der Hitlerjugend beigebrachte worden, dass ich stolz darauf sein muss, ein deutsches Mädel zu sein. Und Pollacken wären der Abschaum der Menschheit, hieß es. Und so nannte sie mich, weil ich nicht gewusst hatte, dass hier Spiegeleier mit Messer und Gabel gegessen werden. Weil wir es nicht anders kannten, aßen wir sie zu Hause mit Teelöffeln.

Und sie sagte, meine Mutter sei eine Schlampe, weil sie mir keine Hausarbeit beigebracht hatte. Das tat sehr weh, weil ich mich doch so sehr nach ihr sehnte. Inständig hoffte ich, sie habe wie ich den Tieffliegerangriff überlebt und käme bald, meine Qualen zu beenden. Immer, wenn Frau K. mich ausschimpfte, dachte ich: "Das erzähle ich Mutti!" Dieser Gedanke tröstete mich. Außerdem wünschte ich mir, wieder zur Schule gehen zu dürfen. Und tatsächlich gab es für mich bald die Möglichkeit, in eine Berufsschule zu gehen. Einmal die Woche durfte ich sie besuchen. Das Lernen machte mir Spaß. Mein Lieblingsfach war Deutsch, ich schrieb gern Aufsätze. Und es gelang mir, für einen eine Eins zu bekommen. Endlich konnte ich Frau K. beweisen, dass ich kein dummes Pollackenkind war. Auf dem Rückweg malte ich mir aus, wie sie mich lobte und sich mit mir freute. An diesem Tag war ich glücklich und fürchtete mich nicht, das Haus zu betreten. Stolz zeigte ich ihr mein Werk. Erwartungsvoll sah ich ihr ins Gesicht. Frau K. nahm das Heft in die Hand, schaute den Aufsatz an, sah geringschätzig auf mich herab und sagte nur ein Wort, das wie ein Peitschenhieb auf mich niedersauste: "Zufall!"

Traurig dachte ich wieder einmal: Das erzähle ich Mutti.

Empfohlene Zitierweise:
Brendecke, Florentine: Das erzähle ich Mutti, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/florentine-brendecke-das-erzaehle-ich-mutti.html
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