Dieser Beitrag wurde von Franz Eichenseher (*1928) aus München im Jahr 2015 verfasst.
Die Amerikaner besetzen München
Am Samstag, dem 30. April 1945 war es ziemlich ruhig – kein Fliegeralarm. Das Radio blieb stumm. Funkstille. Am Vormittag hatte man aus der Ferne ein dumpfes Dröhnen gehört: Artilleriebeschuss? Konnten die Amerikaner schon da sein? Nach den Nachrichten von BBC London, die mein Stiefvater regelmäßig hörte und die ich – soweit ich anwesend war – mithörte, konnte dies schon der Fall sein.
Auch wenn die Eltern protestierten: Ich machte mich auf - Richtung Stadt, was nur zu Fuß möglich war. Es fuhr keine Straßenbahn. Am Nockherberg, der Straße, die hinab zur Isar und stadteinwärts führte, sah ich Soldaten. Nach Art der Uniformen mussten es Amerikaner sein. Aus einem der Schutzräume, die sich am Berghang und Straßenrand befanden, kam ein Mann in Parteiuniform mit erhobenen Händen. Zwei Amerikaner führten ihn zu einem auf der Straße stehenden Jeep und zwangen ihn, sich auf die Motorhaube des Wagens zu setzen. Ein paar Passanten sahen interessiert zu.
Ich ging weiter. An einer Straßenkreuzung stand wieder ein Jeep. Der Fahrer (amerikanischer Soldat) stand auf der Straße und rauchte. Wie ich mit ihm ins Gespräch kam, weiß ich nicht mehr. Er sprach deutsch und erzählte mir, dass er soeben von Dachau käme und auf dem Gelände des dortigen Konzentrationslagers Furchtbares gesehen habe.
Beim Weitermarsch sah ich, dass mehrere Männer dabei waren, ein an der Straße befindliches Geschäft aufzubrechen. Einer kam nach dem Öffnen der Tür mit Flaschen, wahrscheinlich Schnaps- oder Likörflaschen, heraus. Nach Aussehen und Kleidung waren es wahrscheinlich „Fremdarbeiter“.
Ich setzte meinen Weg fort. An der Isarbrücke parkten zwei Jeeps mit Amerikanern, die mit deutschen Mädchen sprachen – radebrechten – flirteten (?). Zigaretten und Schokolade wechselten die Besitzer.
Mein weiterer Weg führte mich zum Kaufhaus Oberpollinger (später Karstadt) in der Neuhauser Straße, dessen Schaufenster mit Brettern vernagelt waren. (Ein Großteil der Häuser an diesem Straßenzug (Kaufinger/Neuhauser Straße) war durch Bomben zerstört und/oder ausgebrannt). Die Türen standen offen. Im Innenraum sah ich umgekippte Verkaufsborde mit herausgefallenen Schubladen. Offensichtlich war das Geschäft ausgeplündert worden. Waren – Kleidungsstücke, Stoffe etc. – waren nicht mehr vorhanden. Am Boden entdeckte ich eine Packung Nähnadeln und zwei Garnrollen, die ich einsteckte. Meine Mutter würde sie für Näharbeiten gut gebrauchen können.
"Die Amerikaner wirkten nicht feindselig"
Auf dem weiteren Weg zum Bahnhofsplatz sah ich eine größere Menschenmenge, die gewissermaßen Spalier stand für die aus der Dachauer Straße in die Innenstadt einfahrenden amerikanischen Panzer. Die Leute begrüßten die auf den Fahrzeugen sitzenden amerikanischen Soldaten zum Teil mit Jubelrufen. Manche gaben ihnen Flaschen mit Wein oder Spirituosen oder warfen sie ihnen zu. Ich bemerkte, dass aus den Kellerausgängen des durch Bomben zerstörten Hotels „Deutscher Kaiser“ Männer mit Flaschen kamen. Offensichtlich wurde dort der Keller (Lager für Wein und Spirituosen) geplündert.
Ich empfand Freude und Erleichterung. Zerstörungen durch Bomben und Artilleriebeschuss waren wohl nicht mehr zu befürchten. Die „Amerikaner“ wirkten nicht feindselig. Man brauchte vor ihnen anscheinend keine Angst zu haben.
Am nächsten Tag ging ich in der Umgebung umher, um zu sehen, was sich ereignete. Ein Lebensmittel-Filialgeschäft („Backdie“) wurde soeben von Männern, die mir gefährlich vorkamen, geplündert. Einer trug einen Sack Mehl aus dem Laden, ein anderer stach mit dem Messer in den Sack, so dass das Mehl auf die Straße floss. Es gab Streit. Ich ging schnell weiter. Dann sah ich, dass das in der Nähe befindliche Milchgeschäft, in dem auch meine Familie - soweit erhältlich - Brot, Butter oder Margarine und Milch einkaufte, ebenfalls ausgeplündert worden war.
An diesem oder am nächsten Tag kamen die „Amerikaner“ in unser Viertel (Obergiesing). Vor den Fenstern fast aller Wohnungen hingen weiße Fahnen. Mein Stiefvater, der Jahrzehnte früher ein oder zwei Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt hatte, hatte neben der weißen Fahne auch noch eine kleine USA-Flagge (Papierfähnchen) angebracht.
Wohnungsdurchsuchungen
Die Wohnungen wurden nacheinander von jeweils zwei Soldaten durchsucht. Mein Stiefvater konnte noch ein wenig Englisch und begrüßte die Soldaten gleich mit „How are you?“ und mit der Mitteilung, dass er schon in den USA gewesen war. Die Amerikaner waren höflich und honorierten diese Begrüßung damit, dass sie nur kurze Blicke in die verschiedenen Zimmer unserer Wohnung warfen. Sie nahmen nichts mit. Von Nachbarn erfuhren wir kurz danach, dass die Amerikaner bei diesen Besichtigungen oft Wertgegenstände, insbesondere Armbanduhren „beschlagnahmt“ hätten. Da die Durchsuchung in erster Linie dem Auffinden von Soldaten der deutschen Wehrmacht galt, hatte ich Angst, als Wehrpflichtiger aufzufallen. Entweder wirkte ich mit knapp 17 Jahren noch zu jung oder die Amerikaner sahen wegen des besonderen Empfangs davon ab, mich näher unter die Lupe zu nehmen, stellten keine Fragen und verlangten insbesondere keine Papiere (Entlassungsschein). Ich war bis März 1945 noch Luftwaffenhelfer (Flakhelfer) gewesen. Meine Einberufung zum Reichsarbeitsdienst wäre fällig gewesen, war aber aus mir unbekannten Gründen unterblieben.
Arbeit
Nach einigen Tagen erhielt ich durch Boten die Nachricht, dass ich mich wieder bei meiner Arbeitsstelle, der Allgemeinen Ortskrankenkasse, einfinden solle. Ein Großteil der noch vorhandenen Angestellten war dort versammelt. Der stellvertretene Direktor begann eine Ansprache: „In Deutschlands schwerster Stunde nach heldenhaftem Kampf unserer Soldaten beginnen wir mit dem Wiederaufbau usw. …“. Er wurde sofort von einem Mann unterbrochen, der sagte: „Sie haben hier gar nichts mehr zu sagen. Ich bin von der amerikanischen Militärregierung zum kommissarischen Direktor bestellt worden. Sie sind Ihres Amtes enthoben.“ Er stellte sich als Gustav Schiefer vor und erwähnte, dass er unter der Herrschaft der Nationalsozialisten Häftling im Konzentrationslager Dachau gewesen war. (Später wurde mir bekannt, dass Gustav Schiefer vor 1933 ein führender Gewerkschaftler in München war und zum Vorsitzenden des Krankenkassenvorstandes bestellt worden war.)
Plünderungen
Am gleichen oder nächsten Tag sah ich, dass auch meine frühere Schule, die Volksschule an der Sankt-Martin-Straße (wir wohnten an dieser Straße) ausgeplündert wurde. Die Anwohner entfernten Möbel und Schreibmaterial. Ich holte meinen Stiefvater, der mit einem kleinem Handwagen („Heuwagerl“) kam und einen Tisch und einen Aktenbock mitnahm. Man hatte kein schlechtes Gewissen. „Alle“ taten es. Man wäre sich dumm vorgekommen, nicht auch etwas zu holen. „Jeder“ sollte oder wollte etwas abkriegen. Über die Folgen, den Inventarmangel der Schule, machte man sich keine Gedanken.
Kurz nach Wiederaufnahme der Arbeit bei der Krankenkasse erzählte eine Kollegin, dass sich gegenüber ihrer Wohnung in der Steinstraße der Hintereingang zum Bürgerbräukeller befand (das ist die Großgaststätte, in der Elser das Attentat auf Hitler beging), und dass das dort befindliche Verpflegungslager für Butter, Fette und Käse geplündert würde. Sie und ihre Angehörigen hätten sich bereits mit Butter und Käse eingedeckt. Ein ganzes Zimmer ihrer Wohnung sei gefüllt. Aufgrund der beginnenden Sommerhitze sah sie die Notwendigkeit, die Vorräte abzubauen. Ich und auch andere Kollegen erhielten von ihr mehrere Stangen mit Schmelzkäse.
Bald darauf machten sich mein Stiefvater und ich auf den Weg zu dem Verpflegungslager. Dort drängten sich viele Leute. Ein amerikanischer Soldat regelte den Zugang und ließ nur nach und nach so viele durch den Eingang als zuvor herausgekommen waren. Wir erfuhren, dass nicht mehr viel zu holen sei und es Kämpfe um noch vorhandene Restbestände gäbe. Wir verließen darauf die Schlange der Anstehenden und machten uns auf den Heimweg.
Unterwegs bemerkten wir, dass vor dem Eingang zu einer Weinkellerei ein Amerikaner stand und Leute mit Flaschen und Kübeln aus dem Weinkeller kamen. Wir gingen hinein und hinunter in den Keller. Dieser war von Weindunst erfüllt. Aus einer Reihe von Fässern, die angebohrt worden oder in die hineingeschossen worden war, lief ziemlich saurer Rotwein. Andere Fässer waren offensichtlich bereits geleert. Auf dem Kellerboden stand der Wein knöchelhoch. Betrunkene torkelten herum. Wir füllten einen mitgebrachten Kübel mit Wein und machten uns davon.
Einige Zeit später besuchte ich einen im Münchner Stadtteil Milbertshofen wohnenden Kameraden, den ich bei meinem Dienst als Luftwaffenhelfer kennengelernt hatte. Ich erfuhr von ihm, dass er an der Plünderung eines in der Umgebung befindlichen Lagers für Tabakwaren beteiligt gewesen war. Er besaß einen großen Vorrat an Zigaretten und Zigarren. Seine Wohnung war zu einem Rauchertreffpunkt geworden. Freunde und Bekannte besuchten ihn und seine Mutter, um dort die großzügig angebotenen Zigaretten zu rauchen. Ich bekam von meinem Freund Zigarren als Mitbringsel für meinen Stiefvater geschenkt.
Wenn die großen Plünderungen in den ersten Tagen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von der Besatzungsmacht verhindert worden wären, hätte die Versorgungslage der deutschen Bevölkerung in den kommenden Monaten wohl wesentlich besser gestaltet werden können.
Das von der Fotografin Lee Miller veröffentlichte Bild „Plünderung des Bürgerbräukellers“, zu sehen in der Online-Zeitschrift Aviso (Nr. 3/2015, S. 24/25, siehe auch www.Leemiller.co.uk) zeigt Umstände dieser Plünderungen, deckt sich allerdings hinsichtlich der Örtlichkeiten nicht mit meiner Erinnerung (andere Straße, anderer Eingang?).
Zur Person
Franz Eichenseher wird am 21. Mai 1928 in München geboren. Von 1933 bis 1942 besucht er die Volksschule, von 1942 bis 1944 die Städtische Kaufmannsschule Münchens. Von August 1944 bis März 1945 ist Franz Eichenseher Luftwaffenhelfer bei der Flak. Ab 1945 arbeitet er als Verwaltungsangestellter bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse München, ab 1946 als Angestellter bei einem Träger der gesetzlichen Unfallversicherung. Hier durchläuft er eine langjährige Karriere bis zum Oberverwaltungsrat und Abteilungsleiter. Nach seiner Versetzung in den Ruhestand ab 1990 ist er als Berater beim Aufbau der Bezirksverwaltung der Berufsgenossenschaft in Erfurt tätig. Als 17-Jähriger erlebt er mit seiner Familie die ersten Tage nach Kriegsende und die amerikanischen Besatzer in München.
Empfohlene Zitierweise:
Eichenseher, Franz: Kriegsende in München, in LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/franz-eichenseher-kriegsende-in-muenchen-1945.html
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