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Gertrud Wallis: Alle Deutschen werden ausgesiedelt - wir dürfen bleiben

Dieser Eintrag stammt von Gertrud Wallis (*1938) aus Bremen. Er wurde am 14.7.1947 verfasst.

Tanowo, 14.7.47 Draußen auf dem Hof in der Sonne

Mein lieber Puz,

[...] seit Freitag früh sind wir Alleinherrscher im Hause, die Deutschen sind tatsächlich ausgesiedelt. Donnerstag Vormittag kam der Befehl: morgen früh um 7 Transport, 40 kg darf jeder mitnehmen. Allgemeine Freude, vor allem Frau Büngel war ganz ausgelassen. - Und ich war die Frohste, weil es mich nicht betraf. Nanne war nicht hier. Der Tag war sehr unruhig, ich musste mancherlei helfen, habe auch einige Reste von Lebensmitteln geerbt, vor allem einen Korb Kartoffeln, die jetzt knapp sind.

Abends soff man nebenan von mir bei offener Tür (auf ausdrückliches Bitten), es war sehr unerfreulich, um ¼ 1 konnte ich's nicht mehr mit anhören, machte die Tür zu, legte mich hin, es wurde nachher auch ruhig bis früh um 4. ½ 5 stand auch ich auf.7 waren alle bereit, ½ 9 kamen zwei Kastenwagen für Gepäck, Alte und kleine Kinder. - Und ich malte mir aus, wie ich da wohl oben auf dem hochbepackten Wagen thronen sollte. Sie sind dann bis Glambecksee gefahren, dort Gepäck gewogen, alles Mehrgewicht blieb da. Nacht in Baracke, morgens anfangs zu Fuß los, bis ein Fuhrwerk angehalten wurde, wieder für Gepäck und Alte. Nach Frauendorf und aufs Schiff. Es soll "in der englischen Zone gehen" wie Frau Büngel immer sagte, im Austausch gegen von dort gekommenen Polen. Ich war selbst erstaunt, dass mir nicht einen Augenblick das Gefühl kam, eigentlich zu denen zu gehören, aber mit diesem innerlich und äußerlich unsauberen und gewöhnlichen Kreis verband uns wirklich nichts, höchstens schämte man sich ihrer Volkszugehörigkeit. Der Tag ganz alleine war ja sonst sehr schön, aber es gab auch Störungen, denn natürlich kamen sofort die Sucher nach zurückgebliebenen Schätzen, Bald vorn, bald hinten versuchte man mir in die Fenster zu steigen, auch noch abends ½ 11 klopfte mich jemand unsanft aus dem Schlaf. - Da hättest Du Deine olle Mutter voll Energie mit ihren 3 polnischen Brocken schimpfen hören sollen, Man floh auch immer eilend, zwei Frauen haben sich gestern bei Nanne sehr entschuldigt, sie gebeten, nicht zur Miliz zu gehen - was wir natürlich nie getan hätten. Nanne kam Sonnabend Mittag ½ 3, hatte es durch Zufall schon in Stettin gehört. Frau Bukowski war sehr ängstlich gewesen, ob man mich etwa doch mitgenommen hätte, Nanne war ruhig, es ging auch ganz mühelos glatt, sehr zur Enttäuschung von Schwester Hilde, die immer erklärt hatte, wir würden doch mit müssen.

Nanne hat aus den Wohnungen noch mancherlei zusammen getragen, an Geschirr haben wir jetzt wieder allerhand, auch flache Teller. - Die zahlreichste Erbschaft sind allerdings die Flöhe. - Ach und schön ist's jetzt! Wir können unbehindert die Küche benutzen, kein Holz wird mehr geklaut, kein Essen verschwindet aus dem Kochtopf. - Und diese himmlische Ruhe. - Jetzt behelligt uns auch niemand mehr. Nanne muß heute Nachmittag wieder zur Stadt, kommt aber Donnerstag schon wieder und bleibt dann hier, will Blaubeeren, Kartoffeln, Pilze einwecken, nähen usw. Wir können's uns leisten, haben genügend zu essen. Armer Puz, Du schluckst Tabletten und wir schwelgen in Obst und Gemüse! Nanne bringt heut wieder einen Pullover fort, für den ich 800 Zl. bekomme.

Blaubeeren und Kirschen gibt es umsonst, 2 Kirschbäume stehen hier hinten im Garten. Auf dem Hof neben unserer Haustür hat Nanne Tisch, Bank und Schemel hingestellt, wenn sie hier ist, können wir dort sitzen, bis es nach Polchow geht.

Ob Du nach Polchow oder nach Tanowo schreibst, wir bekommen beides, hier nimmt eine schon vor Jahresfrist "Eingepolte" die Post an, bringt sie uns auf dem Weg nach Stettin. Die und ihre Tochter, Frau eines Milizmannes, besuchen uns manchmal, auch mich, wenn ich allein bin.

Wie mag es nun mit Deinem Umzug geworden sein, armes Kind? Das beunruhigt mich. Und auch Dein Knie macht mir Sorge, das offenbar sehr viel Schmerzen und Beschwerden macht. Ich wünsche Dir sehr, dass Deine Pläne für den Urlaub in Walsrode gut zur Ausführung kamen. Die Übernahme des Zimmers der dortigen Lehrerin, von der Ilse schrieb, klingt mir sehr lockend.

Ja, Mädel, ich muß aufhören, der Pullover muß fertig werden, und ich hatte Donnerstag - Freitag zu viel Zeit verloren. Schnell ade! Also wir sind quietschfidel und haben's unverschämt gut, denken voll Sorge und Kummer an Euch drüben!

Nanne grüßt mit mir

Herzlich Deine Mama

Empfohlene Zitierweise:
Wallis, Gertrud: Alle Deutschen werden ausgesiedelt - wir dürfen bleiben, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/gertrud-wallis-alle-deutschen-werden-ausgesiedelt.html
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