Dieser Eintrag stammt von Gertrud Wallis (*1938) aus Bremen. Der Brief wurde von Adelheid Fredrich am 22. Januar 1947 verfasst.
Tanowo/Falkenwalde, 22.1.47
Mein liebes Kind,
mit Betrübnis denke ich daran, wie dieser Brief Dich und die Geschwister, denen ich Dich bitte ihn mitzuteilen, aufregen und schmerzen wird, nachdem ich schon die ganze Woche voll Unruhe war, Euch so lange ohne Nachricht lassen zu müssen. Nimm's nicht zu schwer, noch sind wir der Heimat nahe und brauchen sie nicht verloren zu geben. Wir haben unser Stübchen für uns allein, warm und wohnlich, sogar meinen Stuhl (* Rollstuhl ) habe ich wieder - Dank Nannes Energie. Und nun zur Sache:
Dienstag, den 14. abends ½ 8, als Nanne eben von der Arbeit (aushilfsweise) von Halina kam, kam die Weisung : "Fertig machen, morgen früh um 8 Abtransport." Auf Befragen: "Nach Deutschland, mitnehmen, was Du tragen kannst". Na, wir waren seit etwa 4 Wochen wieder auf so etwas gefasst, wenn auch zwischendurch immer wieder das Gegenteil versichert wurde. Säcke usw. lagen noch bereit, mussten nur gefüllt werden! Bis morgens ½ 5 war alles geschafft, auch noch viele Bilder usw. verbrannt. 2 große Säcke, ein kleiner mit meinem Bettzeug, den ich zur Not tragen konnte, einige Taschen, Rucksack. Alles irgend Entbehrliche musste zurückbleiben. Um 8 Befehl: Aufstellen an der Chaussee, die Wagen kommen. Mit Mühe erkämpfte Nanne die Erlaubnis, den Korbstuhl mitzunehmen.
Nach etwa einer Stunde warten im Regen, rauf auf den Kastenwagen, ich mit dem Korbstuhl, noch eine andere Mutter und Tochter mit sehr viel Gepäck mit drauf. Im Ganzen fuhren 7 Wagen. Bei Dunkelwerden kamen wir in Ziegenort an, es stellte sich heraus, dass wir auch als Arbeitskräfte für die Waldarbeit eingesetzt werden sollten, wie schon die vom Werk entlassenen 10 Tage vorher. [...] Aber uns hatte man nicht erwartet und wollte uns nicht haben. [...] Ein leeres Haus wurde uns als Nachtquartier zugewiesen, wir waren in einem Zimmer mit einer sehr unruhigen Familie mit 4 kleinen Kindern, kein Licht, kein Holz für den Ofen. Nach vielem Umherlaufen bekam Nanne soviel Stroh, dass wir, wenn wir auf der Seite lagen, beide drauf Platz hatten. Ich hatte ein Weihnachtslicht in der Abendtasche (* Waschtasche), dabei konnte Nanne jedem von uns eine Stulle schneiden. Na, die Nacht verging auch, morgens wieder auf die Wagen und hierher zurück, wo uns der Förster sehr freundlich empfing, und Mut zusprach. Das Wetter war schön, mild und sonnig an sich die Fahrt durch den Wald wunderschön.
Nun hieß es schnell sein, um in den zugewiesenen Häusern das richtige Zimmer zu wählen, da ist ja Nanne die Richtige, ebenso zum Organisieren der Einrichtung, denn anfangs war nur ein guter Kachelofen und sehr viel Hunde- und Katzendreck im Zimmer. Gegen 2 oder3 werden wir hier gewesen sein, abends hatte ich ein richtiges Bett, Nanne Kastenmatratze mit aufgelegtem Couchteil, wir hatten: Tisch, Stuhl, Waschtisch, Eimerbank und vor allem reichlich Holz, so dass der vorzügliche Ofen es bald warm machte. Unsere Stube liegt in kleinem einstöckigen Haus zu ebener Erde, hat 2 Fenster nach SW, ist etwa 4 x 4 ½ m groß. Jetzt haben wir zwei Holzbetten mit Matratzen, drum natürlich Inlett und das darunter gewesene Wattepolster fehlt, auf denen sich's aber gut liegt, auch Keilkissen haben wir. Zwischen den Fenstern steht ein Tisch, sogar einen Schrank, d. h. ein Vertiko haben wir und auch an Geschirr hat Nanne das Notwendige zusammengefunden, zu den 2 Kochtöpfen, 2 Bechern, 2 Tellern, die wir mitbrachten. Hässlich ist, daß die Lichtleitung entzwei ist, doch will der Förster sie heil machen lassen. Nannes Nachttischlampe haben wir mit. Die Stube hat keinen eigenen Eingang, wir müssen bei besagter Frau Büngel [...] und ihrer Mutter durchgehen, vor deren Stube, am Hauseingang, liegt die Küche, die nur wir zwei Parteien benutzen. Leider ist die Pumpe eingefroren, das Wasser muß weither geholt werden. Ein Lokus ist auf dem Hof vorhanden, aber für mich unerreichbar. Bis gestern stand noch nicht fest, ob wir hier bleiben oder noch anderswo zur Arbeit eingesetzt werden, aber gestern hat die Waldarbeit begonnen. Mir ist bange, wie Nanne das aushält, sie schält Bäume, die andere fällen, 10 Bäume hat sie gestern geschafft; mehr als alle anderen. Es gibt Akkordlohn, gibt auch ab 1.2. Lebensmittelkarten, auf die das Kilo Brot 3 statt 25 Zloty kostet. Der Förster, ein Volksdeutscher aus Kattowitz, ist sehr freundlich. Von 8 - 4 etwa wird gearbeitet. So ist alles ganz gut, wir sind zufrieden, machen's uns behaglich, haben uns lieb, und sagen uns, dass es viel, viel schlimmer sein könnte. [...]
Ja, und vorgestern war Nanne erst in Stettin, dann hat sie in Polchow mit Geschicklichkeit, Energie und Zigaretten meinen Stuhl (*Rollstuhl) freigekämpft und kam abends ¾ 7 - zu Fuß mit ihm an! (Etwa 6 km) Wie bin ich froh! Ich hatte wirklich Sorge, wie es ohne ihn weiter gehen sollte. Jetzt ist's richtig gemütlich! Die Wände hängen voller Bilder - außer Familie und Haus, die hübschen Märchen - Scherenschnitte, die ich Nanne einmal schenkte. Jetzt konnte man sie anpinnen, denn die Wände sind trocken, anfangs lief das Wasser von ihnen herunter. [...]
Ein Jammer ist's um all das viele Gemüse und die Kartoffeln, die wir zurücklassen mussten! Hier ist schwer etwas zu bekommen. Hätte man uns nicht fälschlich glauben gemacht, wir kämen ins Lager, hätten wir ganz anders mitgenommen, die übrigen Familien, die alle aus mehreren tragfähigen Personen bestehen, haben's viel besser. Ach was, wir könnten noch weniger haben! Es geht alles!
Eine sehr nette Frau mit 12 jähriger Tochter hier kennt Nanne vom Kartoffelbuddeln her, die hat uns schon Kartoffeln und vor allem eine Petroleumlampe gegeben, die zwar nicht schraubt, auch nicht sehr gut brennt, da der Zylinder oben abgebrochen ist, aber doch ein unbezahlbarer Besitz ist, zumal jetzt, da Nanne aus Stettin Petroleum mitgebracht hat. Anfangs war nur ein Restchen Rohöl drin.
Frau Bukowski will uns bald einmal besuchen, bringt uns dann noch 2 flache Teller mit, dann sind wir ganz vornehm. - Die arme kleine Frau ist Freitag früh um 9 zu Hause losgegangen, bewaffnet mit gebratenem Fleisch, Kuchen usw., um endlich einmal, wie lange geplant, einen ganzen Tag behaglich bei uns zu sein; hat geklopft, gerufen, schließlich von dem Abtransport erfahren. "Ich habe den ganzen Rückweg geweint, mir war als wäre meine eigene Mutter und Schwester fort", hat sie Nanne erzählt. - Eine Frau, der Nanne den Abend noch schnell Wolle zurückbringen musste, fiel ihr um den Hals: "Maja, wenn ihr fortgeht, sind wir verlassen." Ähnliches könnte ich noch mehr erzählen. Halina hatte den Tag gerade wer weiß was versprochen, wenn Nanne wieder kommen wollte.
Als Nanne meinen Stuhl holte, fehlte außer dem elektrischen Herd, der Tischdecke, den Kissen vom Stuhl, nichts Nennenswertes. Es heißt: die Sachen bleiben zu unserer Rückkehr. (?) Meine 3 Goethebändchen habe ich mit. - Von den Büchern wurde mir der Abschied am schwersten. Na, Friedi und Du, Ihr wisst ja auch, wie das ist, warum soll es uns besser gehen. Wir haben ein sehr, sehr schönes Jahr daheim gehabt. Auch Nannes Geburtstag haben wir trotz aller Wellen noch froh und behaglich gefeiert. [...]
d. 24.) Vor morgen kommt der Brief nicht fort, mein Liebes. Besagtes 12jähriges Mädel, die ihn mitnehmen sollte nach Stettin, auch besorgen versprochen hatte, hat sich nicht wieder sehen lassen, und da wir ganz am Ausgang des Dorfes, eine gute viertel Stunde ab, wohnen, konnte Nanne nicht hingehen. Sie kommt immer ganz erledigt zurück, vorgestern völlig durchnässt, jetzt haben wir Frost, 10° heut früh hier am Fenster, also mit Sicherheit mehr. Der Förster hat gesagt, die Arbeit sei bei diesem Wetter nur freiwillig, aber es sind ja alle auf Verdienst angewiesen. Heut in 8 Tagen soll es Geld geben - lange hin. Eine "Kollone" von 4 Mann wird vermutlich gemeinsam entloht und muß dann teilen, das wäre für Nanne ungünstig. [...]
Und nun Schluß, mein Liebes. Nehmt's nicht so schwer, warum soll es uns besser gehen, als so vielen Anderen!
Und es könnt ja viel schlimmer sein! Wenn nur die Arbeit nicht so schwer wäre für Nanne! Sie ist rührend, nimmt alles als selbstverständlich, verliert die Laune nicht und ist nur um mich besorgt.
Zärtlich grüßt Euch alle
Deine Mama
Zur Person
Adelheid Fredrich (1881-1954), Enkelin von Theodor Mommsen und Tochter von Prof. Ulrich von Wilamowitz- Moellendorf, saß seit ihrem 34. Lebensjahr im Rollstuhl und ging deswegen 1945 nicht auf die Flucht, sondern blieb mit ihrer Pflegerin und Freundin Maianne Zitzke, genannt Nanne, nach Kriegende in ihrem Häuschen in Polchow bei Stettin. Dies ist ein Brief aus dem umfangreichen Schriftwechsel, den sie mit ihren in den Westen geflohenen Töchtern bis zu ihrem Tode führte.
Empfohlene Zitierweise:
Wallis, Gertrud: Aus dem Haus! Umgesiedelt nach Tanowo!, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/gertrud-wallis-aus-dem-haus-umgesiedelt-nach-tanowo.html
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