Dieser Beitrag wurde von Dr. Gilda Strohmeyer (*1940) im Oktober 2022 in Ainring verfasst.
Heute wird ja viel von „Kinderarmut“ gesprochen, oft bereits nur aus dem Grund, weil die Eltern dieser ihnen keine Designerklamotten kaufen können. Dafür habe ich kein Verständnis, das ist nicht Armut. Armut ist, wenn man nichts zu essen hat, kein Zugang zu sauberem Trinkwasser, nichts anzuziehen, kein Dach überm Kopf, keinen Zugang zur Schulbildung, kein Spielzeug und keine ärztliche Versorgung, wenn nötig. Wir Kriegskinder und Nachkriegskinder waren wirklich arm. Wir hatten – wenn unsere Eltern Heimatvertriebene oder Ausgebombte waren – nur sauberes Trinkwasser (aus der Wasserleitung) und Zugang zur Schulbildung. Sonst nichts. Vor allem auch kein Spielzeug. Unsere Spiele bestanden vor allem aus Hüpfen in Kästchen, die mit einem Stein auf den Boden geritzt waren. Ich hatte wenigstens eine Puppe im Arm gerettet, meiner Schulfreundin wurde diese bei der Vertreibung auch noch aus dem Arm gerissen. Brettspiele, welche die Intelligenz ja außerordentlich fördern, hatten meine Eltern 1944 natürlich nicht aus Berlin mitgenommen, da gab es wichtigeres, z. B. mein Gitterbettchen, ein wenig Bettwäsche und einen Tauchsieder etc.
Kein Geld für Spielzeug
Bis 1950 gab es in Deutschland ja absolut nichts zu kaufen: keine Bücher, keine Möbel, keine Kleidung und nun schon ganz und gar kein Spielzeug. Erst hier, im Ruhestand, im Wohnstift Mozart habe ich am Computer Schach gelernt, ein Spiel, das zu lernen, ich mir mein ganzes Leben lang gewünscht hatte. Erst gab es keines zu kaufen, dann hatte ich im Studium und im Beruf keine Zeit dazu. Hier im Mozart-Stift gelang es mir einen Schach-Club zu gründen mit zwölf Teilnehmern, aber durch Corona ist er völlig eingegangen (Abstand und Isolation!).
Mit acht Jahren wünschte ich mir nichts so sehnlich wie ein Fahrrad, das damals 100 DM kostete. Mein Vater konnte mir kein Fahrrad kaufen, als alleiniger Ernährer von vier Erwachsenen und einem Kind [war er] zu arm, und als ich 90 DM zusammengespart hatte, erkrankte ich mit 14 Jahren an spinaler Kinderlähmung. Danach konnte ich natürlich nicht mehr Fahrrad fahren. So blieb der Traum vom Fahrrad ein Leben lang unerfüllt.
Ein geteiltes Fahrrad
Aber ich hatte [zuvor] Fahrradfahren gelernt, denn, siehe oben: „Not macht erfinderisch“: Zwei meiner Freundinnen besaßen Fahrräder, allerdings uralte, wobei eines auch immer gerade kaputt war. Wir hatten also eigentlich zu dritt nur ein Fahrrad, ich eigentlich gar keines. Nun schlug ich vor, daß jede eine halbe Stunde Fahrrad fahren darf und die beiden anderen derweil spielen. Damit waren beide Freundinnen auch einverstanden und so kam ich von 1951 bis 1954 in den Genuss des Fahrradfahrens, ohne je ein Fahrrad besessen zu haben. Ganz schön schlau.
Naturkundesammlungen
Ein weiteres Nachkriegs-Spiel war: „Edelsteine sammeln“ und eine „Naturkundesammlung“ anlegen. Die „Edelsteine“ waren zerbrochene Scherben von Glasflaschen, die man auf der Straße fand, und die „Naturkundesammlung“ bestand aus Federchen und zerbrochen Eierschalen von Vögeln u.Ä., sowie aus Steinen. Damit wurde dann lebhafter Tauschhandel getrieben und dieser ganze Müll beim nächsten Umzug in die Mülltonne geworfen. Verstecken war ein weiteres, kostenloses Spiel. Eine Kindheit zum Heulen.
Zur Person
Gilda Strohmeyer wird 1940 als einziges Kind des Oberstudienrats Gerhard Strohmeyer und seiner Ehefrau Edith, geb. Scherf, im Berliner Hansaviertel geboren. Nach der fast vollständigen Zerstörung des Hansaviertels bei Luftangriffen wird die Familie im März 1944 nach Bald Salzschlirf (Hessen) evakuiert. Strohmeyer besucht dort die Volkschule und das Realgymnasium in Lauterbach, wohin die Familie 1951 umzieht. Sie erkrankt als Jugendliche an spinaler Kinderlähmung. 1960 legt sie das Abitur ab und studiert anschließend bis 1967 Humanmedizin in Marburg und Würzburg. 1968 promoviert sie zum Dr. med. und arbeitet danach als Medizinalassistentin in Bad Driburg, Fulda und Kassel. Sie beginnt die Ausbildung zur Fachärztin für Innere Medizin am Kreiskrankenhaus Bad Hersfeld, die sie 1975 abschließt. Von 1975 bis zu ihrer Pensionierung 2002 arbeitet sie als Oberärztin und ständige Chefarzt-Vertreterin an der Rheuma-Klinik der LVA/Unterfranken in Bad Aibling. Anschließend absolviert sie eine Ausbildung zur Wortgottesdienst-Leiterin im Landkreis Rosenheim und studiert von 2003 bis 2005 katholische Theologie an der Domschule Würzburg. Seit 2006 wohnt sie in einer Seniorenresidenz in Ainring.
Empfohlene Zitierweise:
Strohmeyer, Gilda: Not macht erfinderisch, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/gilda-strohmeyer-not-macht-erfinderisch.html
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