Dieser Beitrag wurde von Dr. Gilda Strohmeyer (*1940) im Oktober 2022 in Ainring verfasst.
Im Oktober 1946 kam ich mit 6 Jahren in die Volksschule Bad Salzschlirf, heute Bonifatius-Schule. (Landkreis Fulda). Ich bin sehr gern in diese Schule gegangen, aber objektiv betrachtet war diese Zeit eine Katastrophe. Denn, wir waren […] 60 Kinder in einer Klasse. Heute stöhnen die Lehrer schon bei 20 Kindern – wir waren 60, Buben und Mädchen, in Hessen herrschte ja Koedukation. Wie die Lehrer das geschafft haben, ist mir heute ein Rätsel. Es ging wohl nur mit „eiserner Disziplin‘. Geschlagen wurde nie, aber ich erinnere mich noch sehr gut, wie wir nach der Pause auf dem Schulhof, nach Klassen „sortiert“, antreten mussten und dann per Kommando durch den Hauptlehrer klassenweise in die Schule marschierten.
Das Schlimmste aber war, daß es in meiner Klasse zwei Kinder gab, die eigentlich sonderschulpflichtig waren. Sie konnten im 4. Schuljahr weder lesen noch schreiben noch rechnen. Natürlich kümmerten sich die Lehrer auch um diese Kinder, menschlich gesehen sehr gut. Vom pädagogischen Standpunkt aber schlecht, da dadurch die begabten Kinder zu kurz kamen. Im 4. Schuljahr hatten wir noch immer nicht multiplizieren und dividieren gelernt und nur weil kurz vor der Aufnahmeprüfung ins Gymnasium der Hauptlehrer sich unserer Klasse annahm, habe ich überhaupt die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium bestanden.
Schlecht ausgebildete Lehrer
Das andere Problem in unserer Volksschulzeit waren die Lehrer selbst. In viereinhalb Jahren hatten wir insgesamt vier verschiedene Klassenlehrer und zusätzlich zwei Lehrer in Rechnen. Im Herbst 1949 wurde die Einschulung von Herbst auf Ostern umgestellt und so saßen wir im 2. Schuljahr drei halbe Jahre in dieser Klasse. Das betraf natürlich auch alle anderen Jahrgänge von 1933 und 1941, nur in jeweils einer anderen Klasse.
Die erste Lehrerin, eine sehr freundliche alte Dame, war aus meiner Sicht heute bereits pensioniert. Sie wurde wegen des Lehrermangels im Herbst 1946 offensichtlich „reaktiviert“. Bei ihr haben wir nur gemalt, immer Rotkäppchen, wochenlang. Ich fand das wunderschön, da ich sehr gut malen und zeichnen konnte. Aber meine ehrgeizige Mutter trieb das fast zur Verzweiflung, da sie nicht erwarten konnte, daß ich nun endlich etwas „Nützliches“ lerne. Die darauffolgenden männlichen Lehrer waren alle sehr jung, so daß ich vermute, daß sie nach dem kriegsbedingten Not-Abitur nur eine ganz kurze Ausbildung zum Volksschullehrer absolviert hatten. Nach dem Motto: lieber eine Kurzausbildung von sechs Wochen als gar keine Lehrer. Man muß sich ja immer vor Augen halten, daß Millionen Männer im Krieg gefallen waren, oder noch in Kriegsgefangenschaft oder im „Entnazifizierungs-Prozess“ waren!
Diese armen jungen Männer – unsere Lehrer – waren ja eigentlich nur zu bedauern: eine viel zu kurze Ausbildung, evtl. noch posttraumatische Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und dann diese riesigen Klassen mit 60 Schülern. Es ist erstaunlich, dass aus uns, ihren Schülern, doch noch einigermaßen brauchbare Menschen geworden sind.
Die Zeit am Realgymnasium
Ostern 1951 trat ich dann in das Realgymnasium in Lauterbach/Hessen ein, heute Alexander von Humboldt- Schule, an dem mein eigener Vater Schulleiter war. Das war nicht ideal, ließ sich aber nicht ändern, weil ich sonst die ganze Schulzeit über „Fahrschülerin“ gewesen wäre. (Alsfeld oder Fulda wären die Alternativen gewesen). Die Lehrer an der Schule, waren nun ausnahmslos besser ausgebildet als die Lehrer in der Volksschule; inzwischen waren ja nun auch schon sechs Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg vergangen.
Trotzdem habe ich nur ganz wenige Lehrer in guter Erinnerung, eigentlich nur unseren Deutsch- und Geschichtslehrer in der Mittel- und Oberstufe und einen von den drei Musiklehrern, die an unserer Schule arbeiteten. Ich habe die meisten als absolut freudlos in Erinnerung, ja, sie taten ihre Pflicht. Die meisten waren auch kompetent, aber ich frage mich heute noch: Warum sind sie Lehrer geworden, warum haben sie dieses oder jenes Fach gewählt? Sie waren nicht in der Lage, mein Interesse z. B. an Mathematik oder Physik oder Chemie zu wecken. Erst im Studium der Medizin habe ich entdeckt, daß auch das interessante Wissenschaften sind.
Ich führe das darauf zurück, daß ja alle meine Lehrer im Gymnasium im Zweiten Weltkrieg waren und dem zufolge unter einer posttraumatischen Belastungs-Situation litten. Nicht wenige mögen auch begeisterte NSDAP- Mitglieder gewesen sein – gerade in Lauterbach in Hessen gab es besonders viele Nazis – und nun lag ihre teuflische Utopie in Trümmern. Solche Menschen hätte man gar nicht auf Schüler loslassen dürfen. Aber es gab ja keine anderen.
Es lag etwas wie ein Grauschleier über diesen neun Jahren im Gymnasium. Ja, es waren schreckliche und schwierige Zeiten und man braucht sich nicht zu wundern, daß viele der Kriegs- und Nachkriegskinder an so vielen gesundheitlichen und psychischen Störungen litten. Ich jedenfalls konnte mich nicht entschließen, den Lehrerberuf zu ergreifen, obwohl vier Generationen vor mir in meiner Familie Lehrer höherer Lehranstalten und zwei Universitäts-Professoren gewesen waren, sehr zum Leidwesen meines Vaters.
Zur Person
Gilda Strohmeyer wird 1940 als einziges Kind des Oberstudienrats Gerhard Strohmeyer und seiner Ehefrau Edith, geb. Scherf, im Berliner Hansaviertel geboren. Nach der fast vollständigen Zerstörung des Hansaviertels bei Luftangriffen wird die Familie im März 1944 nach Bald Salzschlirf (Hessen) evakuiert. Strohmeyer besucht dort die Volkschule und das Realgymnasium in Lauterbach, wohin die Familie 1951 umzieht. Sie erkrankt als Jugendliche an spinaler Kinderlähmung. 1960 legt sie das Abitur ab und studiert anschließend bis 1967 Humanmedizin in Marburg und Würzburg. 1968 promoviert sie zum Dr. med. und arbeitet danach als Medizinalassistentin in Bad Driburg, Fulda und Kassel. Sie beginnt die Ausbildung zur Fachärztin für Innere Medizin am Kreiskrankenhaus Bad Hersfeld, die sie 1975 abschließt. Von 1975 bis zu ihrer Pensionierung 2002 arbeitet sie als Oberärztin und ständige Chefarzt-Vertreterin an der Rheuma-Klinik der LVA/Unterfranken in Bad Aibling. Anschließend absolviert sie eine Ausbildung zur Wortgottesdienst-Leiterin im Landkreis Rosenheim und studiert von 2003 bis 2005 katholische Theologie an der Domschule Würzburg. Seit 2006 wohnt sie in einer Seniorenresidenz in Ainring.
Empfohlene Zitierweise:
Strohmeyer, Gilda: Verhältnisse in den Schulen in der Nachkriegszeit, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/gilda-strohmeyer-schulen-in-der-nachkriegszeit.html
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