Zeitzeugen > Nachkriegsjahre

Günter Hätte: Hinter Stacheldraht. Als POW beim Ami

Dieser Eintrag wurde von Günter Hätte (*1924) im Juli 2002 in Hamburg verfasst.

Oberitalien, April 1945.

Bomben und Granaten auf die zurückflutenden Wehrmachtseinheiten. Ein Wunder, daß ich dieses höllische Geschehen unversehrt überstanden habe. Bei Bassano geriet ich in amerikanische Gefangenschaft. Unendliche Freude und Erleichterung mischten sich mit der bangen Frage: Was kommt nun?

Mit großen Sattelschleppern transportierte man uns über den Appenin in die Toscana. Zwischen Pisa und Livorno befanden sich riesige Gefangenenlager. Zwölf kleinere Camps waren jeweils zu einem großen Komplex zusammengefaßt. Ein doppelter Stacheldrahtzaun umgab das ganze Gelände, Wachtürme ringsherum. Den ganzen Komplex durchschnitt die Lagerstraße. Trucks fuhren uns bis zum Lagertor und es hieß absteigen: "Hurry up! Come on!" Beim Runterspringen vom Wagen gaben uns farbige GI`s Hilfestellung. Oh wie nett, dachte ich noch - da spürte ich schon den Griff zum Handgelenk, zur Armbanduhr. Dann wurden die Orden und Abzeichen kassiert, darauf waren sie ganz scharf. Was soll`s, auf die konnte ich gerne verzichten. Wir wurden nun zu jeweils ca. 500 Gefangenen oder sogar mehr auf die einzelnen Camps verteilt, gewissermaßen in große Käfige eingesperrt.

"in große Käfige eingesperrt"

Da standen wir unter freiem Himmel (tagsüber sengende Sonne, nachts wurde es empfindlich kühl), wurden gezählt, notdürftig verpflegt und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Immerhin nach einigen Tagen bekamen wir Zweimann-Zelte geliefert, die wir uns zu sechst teilen mußten. Anfangs lagen wir auf nacktem Lehmboden, nach und nach besorgten wir uns leere Milchpulverkartons von der Lagerküche und legten das Zelt damit aus. Zum Zudecken gab's nichts. Wir lagen wie die Sardinen in der Büchse und wärmten uns gegenseitig. Manchmal ging nachts ein wahrer Wolkenbruch auf uns nieder, der den ganzen Platz in ein Schlammfeld verwandelte. Das Wasser floß durch die Zelte und durchnäßte alles - nirgends ein trockenes Plätzchen. Wir standen, naß bis auf die Haut, im Regen und warteten auf den Tagesanbruch, auf die Sonne. So sehnsüchtig wir in diesem Falle die Wärme der Sonne herbeiwünschten, so litten wir andererseits unter sengenden Strahlen, 40 Grad waren keine Seltenheit. Schmale Streifen Schatten spendeten nur die Latrinenbuden (man nahm den Geruch in Kauf) und die Waschbaracke - längst nicht für alle.

Reeducation im Lager

Dem Luxus der Unterbringung entsprach anfangs auch die Verpflegung: Sechs Mann mußten sich ein Weißbrot von ca. 600 Gramm teilen, morgens gab es eine dünne Hafersuppe, mittags ein halbes Kochgeschirr voll mit Milchsuppe (Haferflocken und Trockenobst), abends nur Tee. Logisch, daß man davon auf die Dauer nicht leben konnte. Wir magerten alle sehr ab. Einige, schon ältere, weniger robuste Kameraden haben das nicht überlebt. Damals kamen die ganzen Nazigräuel ans Licht, die wir anfangs gar nicht glauben mochten. Aber die ausgestellten Fotos und gezeigten Filme aus den KZs ließen keine Zweifel und erschütterten uns sehr; bis auf wenige Unbelehrbare, die darin nur Gräuelpropaganda gegen Deutschland erblickten. Für diese Verbrechen der Nazis wurden wir nun kollektiv abgestraft.

"Hunger beherrschte unser Denken"

Der Hunger beherrschte unser Denken. Die Gespräche drehten sich meist um das Essen. Schon die Erinnerung an das einst verschmähte Kommißbrot ließ uns das Wasser im Munde zusammenlaufen. Weil die tägliche Brotration so klein war, überwachten alle mit Argusaugen die Teilung des Brotes, daß die Scheiben auch wirklich möglichst gleich dick waren. Um das zu erreichen, hatten wir eine Schablone angefertigt: War die Teilung geschehen, durfte man in täglich wechselnder Reihenfolge sich eine Portion aussuchen. Diese Prozedur dauerte lange, da wurde recht genau hingesehen und nach Millimetern ausgewählt.

Die mittägliche Milchsuppe schöpften die "Küchenbullen" aus großen Containern; oben war die Suppe trotz gelegentlichem Umrühren dünn, nach unten hin wurde sie zunehmend dicker. Ich hatte genau beobachtet, wie viele Portionen ein Container enthielt und der wievielte in der Reihe der Essenfassenden ich sein mußte, um an das begehrte "Dicke" zu kommen. Meistens klappte es.

Die Suppe aßen wir nicht sofort ganz auf, sie mußte ja bis zu Abend reichen. Wir brockten einen Teil der Weißbrotschnitte hinein, das Brot quoll in der Suppe auf und vergrößerte das Volumen. Optisch hatten wir nun eine größere Portion als vorher. Den ganzen Nachmittag kämpften wir gegen das Verlangen, den Rest auf einmal zu verputzen. Um uns abzulenken, machten wir im Lager die Runde und lauschten mal hier und mal da dort den Vorträgen, die mitgefangene Lehrer, Professoren und sonstige Experten über die verschiedensten Wissensgebiete hielten. Das brachte doppelten Gewinn: zum einen vergaß man ein wenig den quälenden Hunger, zum anderen lernte man eine Menge dazu.

Freiwillige für Arbeitskommandos

Zählappell an jedem Morgen. Wir mußten in Fünferreihen antreten, der amerikanische Sergeant zählte "seine Gefangenen". Er nahm sich dafür viel Zeit. War es Unvermögen oder Schikane? Jedenfalls standen wir stundenlang in der heißen Sonne, weil der Ami nicht zu Rande kam. Beim Zählappell wurden oft Freiwillige für diverse Arbeitskommandos gesucht. Das waren begehrte Jobs; ich versuchte immer dabei zu sein. Meistens konnte man etwas Eßbares organisieren. Mit Trucks wurden wir z.B. zu Verladearbeiten in ein riesiges Lebensmittedepot der Army gefahren. Das befand sich in der Nähe von Livorno in einem Pinienwald. Dort mußten wir Eisenbahnwaggons entladen und die Lebensmittelkisten zu hohen Pyramiden stapeln. Nun hatten wir POWs (Prisoner of War = Kriegsgefangener) Techniken entwickelt, wie wir, ohne erwischt zu werden, an die begehrten Lebensmittel herankamen, um unseren Hunger zu stillen. Geklaut und gegessen wurde alles: Marmelade, Eipulver, Zucker, Mehl, Trockenfrüchte usw. Besonders beliebt waren die Frontrationen der Amis; sie bestanden aus zwei kleinen Büchsen: In der einen, schwereren, befand sich ein Fertiggericht, in der anderen Schokolade, Kekse und Bonbons. Die Dosen ließen sich leicht öffnen, und immer, wenn wir außer Sichtweite der Posten waren, im Waggon oder oben auf der Pyramide zwischen den Kisten, stopften wir uns den Mund voll. Unterschiedliche Strafen erwarteten den Ertappten. So wurde ein Marmeladendieb in eine Art Käfig gesperrt, den er erst wieder verlassen durfte, wenn er einen Eimer Marmelade aufgegessen hatte, oder er erhielt drei Tage Arrest: Im Lager war ein mit Stacheldraht umzäuntes Geviert von etwa drei mal vier Meter mit einem Boden aus Schottersteinen. Der Delinquent mußte darin drei Tage und Nächte ausharren. Verpflegung gab"s nicht, eine harte Sache.

Quälender Hunger

Hunger tut weh. Ihn zu stillen tut man manches, was einem normalerweise im Traum nicht einfallen würde. "Wer einmal aus dem Blechnapf frißt" heißt ein Roman von Hans Fallada. Hier war es der Abfalleimer. Wir mußten in einem Army-Camp die Wege harken und lungerten um das Küchenzelt herum, vom Geruch gegrillter Hähnchen magisch angezogen. Die Behälter für Küchenabfälle standen hinter dem Zelt. Darin lagen die mit noch reichlich Fleisch versehenen Hähnchenknochen. Die Amerikaner achteten streng auf Hygiene, die Behälter waren sehr sauber. Wir konnten nicht widerstehen, und machten uns über die Hähnchenreste her. Ein Festessen! Unsere entwöhnten Mägen rebellierten, einige hatten "Dünnpfiff" hinterher, aber das konnte den Genuß nicht mehr schmälern.

Diese entbehrungsreiche Zeit endete im Spätsommer 1945. Da wurde ich einem Arbeitskommando in Neapel zugeteilt. Nun hatte der quälende Hunger ein Ende.

Empfohlene Zitierweise:
Hätte, Günter: Hinter Stacheldraht. Als POW beim Ami, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/guenter-haette-hinter-stacheldraht.html
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