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Hannes Bienert: Auf dem Rückweg nach Beuthen

Dieser Eintrag wurde von Hannes Bienert (1928-2015) im Jahr 2013 in Bochum verfasst. Die Mutter und Geschwister des Wehrmachtssoldaten Johannes "Hannes" Bienert werden während des Krieges nach Steyr an der Ennes (Österreich) evakuiert. Nach Kriegsende 1945 versucht Hannes, der zu ihnen gestoßen ist, mit ihnen zurück in ihre Heimat ins oberschlesische Beuthen (heute Bytom, Polen) zu gelangen.

Von Österreich über Ungarn und Polen nach Beuthen

Wir wollten zuerst mit dem Zug durch die Tschechoslowakei, das wäre der kürzeste Weg nach Deutschland. Da kamen uns auch schon die ersten Deutschen entgegen, splitternackt ausgezogen, der Arsch voll mit blauen Striemen. Wir Deutschen waren ja verhasst bei den Tschechen durch die Nazis. Die Nazis hatten ja dasselbe vorher mit den Tschechen gemacht und die ließen nun keinen Deutschen durch. Darum nahmen wir dann einen langen Weg, der 6 Wochen dauern sollte. Unsere Strecke in unsere Heimat führte von Österreich über Ungarn und Südpolen nach Beuthen. Es gab keine andere Möglichkeit. Unterwegs, als wieder einmal die Lok weg war und wir auf einem durch den Krieg zerstörten Bahnhof standen, sahen wir zwei Jungen, etwa 6-7 Jahre alt, die den Zug verlassen hatten und dort auf der Suche nach Essbarem herumstreunten. Sie hatten wohl Hunger. Plötzlich gab es einen lauten Knall. Eine Handgranate war explodiert und verletzte die Beiden schwer, ihre Beine waren zerfetzt. Wir schleppten sie wieder in den Waggon. Ohne ärztliche Hilfe erlitten sie fünf Wochen unvorstellbare Schmerzen bis zur Endstation. In Österreich fuhren wir immer an der der tschechoslowakischen Grenze entlang und gelangten dann nach Ungarn.(…)

Chaos und Krankheiten im Zug

Die Situation im Zug, der 8 oder 10 Waggons lang war und mit dem wir 6 Wochen unterwegs waren, hatte sich mittlerweile zum Schlimmsten entwickelt. Es herrschte Chaos, Krankheit (hauptsächlich Durchfall), Hunger, Sterbefälle... Wenn dann der Zug irgendwo hielt, dann wussten wir, dass die Lok wieder weg fuhr. Das dauerte wieder ein paar Stunden. Die Lok musste dann Kohlen holen oder was weiß ich. Wenn dann der Zug irgendwo hielt, sprangen die Frauen sofort raus, nahmen ein paar Steine, stellten einen Aluminiumtopf drauf und kochten so ein bisschen Wasser, um irgendwie für die Kinder schnell etwas zu Essen zu machen. Die kochten das Bisschen, was sie noch hatten. Es gab auch kein Schamgefühl mehr. Die Frauen stiegen einfach aus dem Zug aus, hoben ihre Röcke hoch und verrichteten ihre Notdurft. Ob da Kinder herum liefen, ob da Männer dabei waren, das war egal. So verroht waren die Menschen. Die alten Frauen aus Oberschlesien trugen lange Röcke, Unterröcke und Pumphosen, also ganz trachtenmäßig, bis unten lange Kleider. Später brach eine Durchfallepidemie im Zug aus. Dann wurde in der Mitte ein Waggon eingerichtet, wo nur die alten Leute und die Kranken rein gelegt wurden. Wenn einer krank wurde, hatten die Angehörigen gar keine Zeit mehr, sich darum zu kümmern. Jeder war auf sich allein gestellt. Die Kranken wurden einfach vergessen, das waren überwiegend die älteren Leute, die Mütter oder so. Sie mussten aber aus ihren eigenen Waggons raus, damit sie nicht noch mehr Menschen ansteckten. Dann lagen sie da mutterseelenallein. Ihre Angehörigen hatten die eigenen Kinder zu versorgen. Man merkte auch, dass sich niemand um die Leute, die da krank im Waggon mitten im Zug lagen, kümmerte. Die Kranken waren total apathisch. Von Tag zu Tag ging es nur ums nackte Überleben.

Eine harte Aufgabe

Ich war der einzige junge Mann in dem ganzen Konvoi. Deswegen hatte ich eine harte Aufgabe übernommen. Ich machte jeden, oder jeden zweiten, Tag die Tür des Waggons auf, in dem die Kranken waren. Da lagen dann welche, die waren schon 2 bis 3 Tage tot. Bei einigen krochen schon die Würmer aus den Kleidern wegen des Durchfalls. Ich musste unterwegs die Leichen beerdigen. Ich packte die Toten an den Beinen und zog sie aus ca. 1 m Höhe aus dem Waggon. Dazu hatte ich eine alte Wehrmachtsdecke, vorne und hinten zugeknotet, so dass die Leiche nicht heraus fallen konnte. Damit zog ich sie über die Erde, denn ich konnte sie nicht tragen. An der Böschung machte ich die Decke auf und ließ die Toten runter rollen. Von den Angehörigen interessierte sich keiner dafür, was mit seinen todkranken Verwandten passierte. Wer in diesem Waggon lag, war einfach vergessen. Sie waren alle dem Tod geweiht.

Tod meiner kleinen Schwester

Meine kleine Schwester, Heidrun, gehörte auch zu den Toten, war auch mit dabei. Der Mutter ging die Milch aus, konnte nicht mehr stillen und die Kleine war erst 6 Monate alt. Das war das schrecklichste Erlebnis, das ich selbst mit eigenen Augen sah und mitempfand. Sie hielt das Kind, Heidrun hieß sie, auf dem Arm, machte den Waggon auf und die Sonne schien. Mal japste Heidrun, mal machte sie schon mal die Augen wieder auf. Die Mutter hatte altes Brot aufgehoben und in Wasser heiß gemacht. So hatte sie versucht das Kind aufzupäppeln, damit Heidrun ein bisschen was zu essen bekam. Als die Nacht kam, war sie wieder weg, wie tot. Das ging so drei oder vier Tage. Und am vierten Tag war sie wirklich tot. Schließlich, nachdem wir in Ungarn an der tschechoslowakischen Grenze zu Polen wiederholt einen Übergang suchten, gelang es uns bei Kralowsky-Chlmec am äußersten Zipfel der Slowakei von hinten herum nach Südpolen zu kommen, Richtung Sanok. Meine Mutter konnte sich nicht trennen von ihrer toten Tochter und es dauerte lange, bis ich sie überreden konnte. Der Zug hielt wieder in so einem polnischen Ort, die Lok war weg. Da sprach ich mit der Mutter, dass die Kleine wenigstens beerdigt werden sollte. Ich wollte Heidrun nicht die Böschung herunterschmeißen. Das konnte ich nicht. Wir gingen dann auf den Friedhof und klingelten beim katholischen Pfarrer. Meine Mutter konnte Polnisch und sprach mit ihm. Da fragte er: "Niemiec albo polak?" "Seid ihr Deutsche oder Polen?" Da antwortete die Mutter: "Deutsche!" Da sagte der Pfarrer: "Dann kann das Kind verrecken!" Und er knallte die Tür zu. Das war ja die Zeit nach dem Krieg. Die Deutschen waren gerade erst raus, die hatten Frauen und Kinder in Polen vergewaltigt. Überall war verbrannte Erde, alles war kaputt gemacht. Das sollte ja alles zerstört werden, als die Deutschen sich zurückzogen. Da waren der Hass und die Wut noch so aufgestaut.

"Jetzt standen wir da mit dem Bündel."

Jetzt standen wir da mit dem Bündel. Wir hatten noch diese Mullwindeln, die waren wie so eine kleine Decke, in denen war das kleine Baby eingewickelt. Jetzt standen wir da, die Mutter mit dem toten Kind auf dem Arm. Ich sagte ihr, dass wir wieder zurück zum Zug müssten. Und dann, als wir den Friedhof verlassen wollten, mussten wir an einer Leichenhalle vorbei. Ich machte die Tür auf. In einem offenen Sarg lag ein alter, toter Mann. Ich nahm der Mutter das Kind weg und sagte, dass Heidrun dadurch wenigstens unter die Erde käme. Ich hob dem Toten die Beine hoch und schob das kleine Bündelchen da drunter. Anschließend musste ich erst einmal eine halbe Stunde lang meine Mutter weg zerren. Die wollte da gar nicht weg. Wir mussten aber wieder zurück zum Zug, zu den drei Geschwistern. Keiner wusste, wo wir mit dem toten Kind hingegangen waren. Wir hatten meinen Geschwistern Marianne, Susanne und Wolfgang nichts gesagt. Wir kamen gerade noch rechtzeitig am Zug an. Eine neue Lok war angespannt und es ging weiter. (…)

Endstation in Myslowitze

Wir kamen dann nach 6 Wochen also, von hinten herum nach Südpolen, nach Sanok. Von Sanok ging es dann noch nach Myslowitz (Myslowice). Dort war Endstation. Myslowitze war der Geburtsort meines Vaters. Gleichzeitig begann und endete somit das grausame Schicksal seiner Familie vorläufig hier. In Myslowitz gab es einen vernünftigen Pfarrer, der nicht so voller Hass war. Nun, was heißt vernünftig. Der eine mag auch vernünftig gewesen sein, welches Schicksal er durch die Deutschen erlitt, dass so eine Wut in ihm war. Die war ja allgemein in den Ostländern vorhanden, da die Deutschen, auf dem Rückzug die Frauen vergewaltigten, alles verbrannten und zerstörten. Ich konnte das schon nachvollziehen. Dieser Pfarrer erlaubte uns dann, auszusteigen und schützte uns vor den Polen, die die Deutschen ja hassten. Wir verbrachten die ersten zwei Nächte in der Kirche. Er schloss uns ein, kam am anderen Morgen an und sagte, in dem Waggon wären noch 17 Tote, ob ich die nicht ausladen wollte, ich würde dafür eine ganze Schüssel Milchsuppe kriegen. Und dann, das war auch mein letzter Akt, machte ich noch einmal den Waggon leer. Danach wurden wir in alle vier Winde zerstreut und nach und nach, teils zu Fuß teils mit Pferdewagen, gingen wir in Richtung Beuthen, Oberschlesien, meine Geburtsstadt, die zuerst von den Russen und später von den Polen besetzt wurde.

Empfohlene Zitierweise:
Bienert, Hannes: Auf dem Rückweg nach Beuthen, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/hannes-bienert-auf-dem-rueckweg-nach-beuthen.html
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