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Hannes Bienert: Vertreibungen und Flucht aus Polen

Dieser Eintrag wurde von Hannes Bienert (1928-2015) im Jahr 2013 in Bochum verfasst.

Sammellager für Deutsche

Ich hatte inzwischen erfahren, dass in Oberschlesien, in Waldenburg [Walbrzych, Polen], ein großes Sammellager für Deutsche war, die dann im Güterzug, in Viehwaggons, nach Deutschland gekarrt wurden. Dahin wollte ich jetzt, dazu musste ich aber erst nach Gleiwitz [Gliwice, Polen].Meine Familie musste ich zurücklassen. Meine Mutter erzählte mir später, dass sie in Beuthen nachdem ich weg war, noch miterlebte, dass viele polnische Flüchtlinge aus Lemberg [Lwiw, Ukraine] eintrafen. Lemberg lag im Ostteil von Polen, der 1945 von den Russen okkupiert wurde. Das polnische Gebiet grenzte an Russland und wurde nach der Kapitulation bei der Konferenz in Jalta zwischen Churchill, Roosevelt und Stalin Russland zugeteilt. Aus diesem Teil von Polen, Lemberg, wurden die Polen von den Russen genauso herausgejagt, wie wir von den Polen aus Oberschlesien. Die mussten weg, wurden in Güterwaggons gepackt und kamen dann so auch nach Beuthen. Beuthen war eine Endstation. Als sie ausstiegen, gingen sie von Haus zu Haus, machten die Türen auf, guckten rein: "Ach, ist gut!" Schrank aufgemacht, angeschaut, was da drin ist: "Gefällt mir hier, die Wohnung nehmen wir!" Daraufhin mussten die Deutschen innerhalb von 30 Minuten verschwinden. Einige Deutsche waren schon abgehauen, hatten aber immer noch geglaubt, sie kämen zurück. Ihre Hausschlüssel ließen sie deswegen bei den wenigen Deutschen, die dort blieben. Sie sollten sie doch verwahren und mal gucken und lüften und so. Das war alles Illusion; die Leute glaubten noch, sie würden zurückkehren.

Auf der Flucht

In Beuthen fuhr schon die russische Spur, die breite. In Gleiwitz fuhr noch die deutsche Normalspur, so wie sie jetzt die Eisenbahn hat. Mit Spur meine ich den Gleisabstand. Die russische Spur ist größer als die deutschen Gleise, die man hier am Bahnhof sieht. Da zog ich meine alte Luftwaffenhelferuniform in tintenblau an und packte den Rucksack, musste aber bei meiner Flucht aufpassen. Ich kam in Gleiwitz an, und musste mich tagsüber verstecken. Der Zug wurde erst nachmittags eingesetzt. Der war voller Flüchtlinge, mit Sack und Pack, mit Kind und Kegel. Ich konnte da ja nicht offiziell rein. Die polnische Streife lief da herum, und kontrollierte auch, ob da nicht Polen dabei waren, die nach Deutschland abhauen wollten, oder sonstige Illegale. Die machten zwischendurch Ausweiskontrollen. Bis zuletzt hielt ich mich versteckt. Kurz bevor der Zug abfuhr, wollte ich dann noch aufspringen, kam dann aber nicht mehr drauf. Die Trittbretter besetzt, zwischen den Waggons, auf den Puffern, auf den Dächern: Alles voller Menschen. Kein Krümel mehr Platz. Und dann war mir alles scheißegal. Ich sagte mir: "Zurück kannst du nicht mehr." Also setzte ich alles auf eine Karte. Von hinten kroch ich auf den Kohlentender. Die Dampflokomotiven heizten damals mit Kohlen. Hinter der Lokomotive war dann der Kohlentender angehängt. Der Heizer konnte sich umdrehen und von dort aus Kohle scheppen. Er machte die Klappe auf und die Kohle kam in den Ofen rein. Und ich hatte mich oben auf den Kohlen versteckt. […] Das Ende vom Lied war, dass auf einmal die Kohlen alle waren. Ich rutschte immer tiefer runter, und plötzlich war ich in dem Lokomotivraum, da, wo die Heizer der Lokomotive waren. Ich hatte immer Zigaretten und Tabak dabei. Ich gab denen was und die drückten ein Auge zu und hielten die Schnauze. Dann kamen wir in Waldenburg an. […]Am nächsten Morgen kamen dann die anderen und die Waggons wurden voll. Gegen Mittag ging es dann los. Es kamen polnische Soldaten bis zur deutschen Grenze an der Oder, und dann stiegen amerikanische Soldaten ein. […]

An der Grenze

Als wir an der Grenze ankamen, stiegen die Polen aus. Wir mussten dann wieder in ein Sammellager, eine große Turnhalle, in der wir uns ausziehen mussten. Da kamen sie dann mit einer großen Holzspritze (wie eine große Luftpumpe zum Aufblasen von Luftballons), gefüllt mit Entlausungspulver. Wir mussten uns nackt hinstellen. Von Kopf bis Fuß sahen wir danach aus wie Bäcker. Das war ein Tötungsmittel gegen die Läuse oder für die Läuse. Danach kamen wir wieder für ein paar Tage in ein Sammellager, dort wurde der ganze Transport aufgeteilt, das war wahrscheinlich eine Abmachung: Die einen kamen nach Sachsen, die anderen kamen nach NRW [Nordrhein-Westfalen], nicht alle zu einem Punkt. Ich kam, zusammen mit zwei, drei Mädchen nach Westhoven bei Dortmund. Im Schulhof wurden wir ausgeladen. Es kamen Leute, die zwei bis drei von uns, ob sie wollten oder nicht, in ihre kleinen Siedlungshäuser aufnehmen mussten, weil sie von der Besatzung dazu gezwungen wurden. Eigentlich hatten wir ja damals die Adresse in Lübeck als Treffpunkt ausgemacht. Trotzdem machte ich dann erst einmal mit, obwohl ich eigentlich sofort abhauen wollte. Ich hab mir gesagt: Mach du erst mal zwei, drei Tage Pause! Ruh dich aus! Das Schöne war, es gab ja damals noch Lebensmittelkarten und Tabakkarten für Rauchwaren. Man bekam entweder 40 Zigaretten, oder ein Paket Tabak im Monat. Ich konnte dann die Lebensmittelmarken und Tabakmarken holen, das wartete ich noch ab. Als ich die Klamotten hatte, haute ich dann bei Nacht und Nebel nach Lübeck ab.

Empfohlene Zitierweise:
Bienert Hannes: Vertreibungen und Flucht aus Polen, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/hannes-bienert-vertreibungen-und-flucht-aus-polen.html
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