Dieser Beitrag wurde von Heiner Fosseck (*1940) im Juni 2008 in Hamburg verfasst.
Mit dem Zug aus Parchim in den Westen
Im Januar 1946 hörten wir von einer Gelegenheit, mit dem Zug aus Parchim in den Westen zu kommen. Wir wollten raus aus der russisch besetzten Zone und wagten einen ersten Fluchtversuch. Nach langem Überreden fand sich ein Bauer bereit, uns mit seinem Pferd und Leiterwagen zu einer 30 Km entfernten Bahnstation zu fahren. Früh morgens wurde der Wagen mit Bettzeug und Wäsche beladen. Mehr hatten wir nicht mehr. Meine Mutter mit ihrem Baby, meine Großmutter, mein älterer Bruder und ich stiegen auf den Leiterwagen. Vorne der brummige Kutscher, der sich nicht einmal umblickte.
Es herrschte eisige Kälte, Schnee und Glatteis, Minus 20 Grad Celsius. Das Pferd rutschte zweimal aus und wurde mühsam wieder aus- und eingeschirrt. Der Kutscher machte Lappen um die Hufe. Die Lappen waren allerdings unsere Handtücher. Meine Mutter versuchte das Baby vor dem Erfrieren zu schützen. Mein Bruder und ich durften unsere Hände abwechselnd in die Achselhöhlen meiner Großmutter stecken. Trotzdem hatten wir einen "Krippelwurm" in den Händen. Schließlich konnten wir es oben auf dem Wagen vor Kälte nicht mehr aushalten. Um uns aufzuwärmen, liefen wir dann beide heulend hinter dem Pferdewagen hinterher.
"Viehwaggons voller Menschen auf einem Abstellgleis"
Am späten Nachmittag kamen wir an der einsamen Bahnstation an. Hier waren drei Viehwaggons voller Menschen auf einem Abstellgleis. Die warteten schon wochenlang auf einen Zug, an den die Waggons angehängt werden sollten. Die Wände der Waggons waren innen mit einer dicken Eisschicht bedeckt. Die Leute waren nicht erbaut, als wir in den Waggon mit einzogen. Tagsüber war die einzige warme Stelle das Schrankenwärterhäuschen. Hier drängelten sich alle Menschen hinein, wärmten sich auf und kochten das Essen. Hier wurde mir auch eine Glatze geschnitten, denn ich hatte Kopfläuse bekommen. Ich sähe aus wie ein "Russenkind", meinten die Leute. Ich schämte mich.
Zwei Wochen hielten wir hier aus. Ein Zug, an den wir angekoppelt werden konnten, kam und kam nicht. Entnervt fuhren wir schließlich den gleichen Weg mit dem gleichen Pferd und Wagen nach Parchim zurück. Erst Jahre später erfuhren wir, dass die Waggons drei Tage später an einen Zug in den Westen angekoppelt worden waren und die Menschen in die ersehnte "britische Zone" gelangten.
Zuzugsgenehmigung 1947
Anfang März 1947 erhielt meine Mutter endlich einen "Interzonenpass", eine Reiseerlaubnis und die Zuzugsgenehmigung zur Übersiedlung nach Hamburg. Mein älterer Bruder war schon mit ausgebombten, ursprünglich nach Parchim evakuierten Bekannten, zurück nach Hamburg gefahren. Er sollte nicht in der Russischen Zone zur Schule gehen. Von Parchim nach Hamburg sind es immerhin 138 Km.
Jetzt ging alles ganz schnell. Ich marschierte noch einmal in unser beschlagnahmtes Geschäftshaus und erzählte stolz den peinlich berührten Angestellten, dass wir jetzt nach Hamburg fahren. Ich wurde nach Hause gebracht. Meine Mutter steckte mich verärgert sofort ins Bett.
In das Flüchtlingslager Friedland
Es war ein schöner Vorfrühlingstag, als wir uns von unserer guten Frau Rieck, die uns so selbstlos in Ihrem Hause aufgenommen hatte, verabschiedeten. Jetzt ging es regulär vom Parchimer Bahnhof in einen überfüllten Zug über Wittenberge und Stendal nach Göttingen, von da in das Flüchtlingslager Friedland. Hier wurden uns neue Papiere - "Westpapiere" - ausgestellt. Mehr als eine Woche mussten wir hier warten. Dann ging's mit übervollen Zügen nach Hannover. Wir übernachteten dort in einem Tiefbunker unter dem Bahnhof. Der Bunker war brechendvoll mit Menschen. Zwei und dreistöckige Betten wo man hinsah. Am nächsten Morgen erhob sich meine Großmutter vom unteren Bett und gleichzeitig rauschten meine Mutter und wir zwei Kinder mit dem oberen Bett in die Tiefe. Vom Krach wurde der ganze Bunker wach. Uns war Gottseidank nichts passiert.
Endlich waren im Zug nach Hamburg. Wir rollten über die Elbbrücken. Trümmer, Ruinen, Schutt wo man hinsah. Man konnte bis nach Hasselbrook sehen. In den freigeräumten Straßen waren halbrunde Wellblechhütten, Notunterkünfte für die Ausgebombten. Manche Straßen waren gänzlich zugemauert. Meine Mutter weinte. Meine Großmutter sah stumm vor sich hin und streichelte meinen Kopf. Die Halle des Hamburger Hauptbahnhofs war nur noch ein Gerippe. Ganz hinten sah ich einen "neuen Zug ohne Lokomotive". Ich konnte nicht glauben, dass ein Zug ohne Lokomotive fahren kann. Mit diesem Vorortzug (S-Bahn) fuhren wir nach Blankenese. Hier wurden wir erwartet. Alle fielen sich in die Arme. Wir weinten. Wir waren endlich im Westen angekommen.
Empfohlene Zitierweise:
Fosseck, Heiner: Raus aus der Ostzone, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/heiner-fosseck-raus-aus-der-ostzone.html
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