Zeitzeugen > Nachkriegsjahre

Helene Bornkessel: Stiefmutter?

Dieser Eintrag stammt von Helene Bornkessel (* 1920) und wurde im Jahr 2003 im Seniorenbüro Hamburg verfasst.

In meinen Altenkreis kamen zwei Besucherinnen, die nach dem Krieg Westpreußen verlassen mußten, sie waren sehr ruhig und hilfsbereit. Über ihr Leben sprachen sie wenig. Die Männer waren gefallen und sie mußten die Kinder und die kleine Hofstelle allein versorgen. Jetzt bewohnten sie eine kleine Wohnung in der Nähe ihrer Kinder und waren mit sich und der Welt zufrieden. Bei uns im Altenkreis und in der katholischen Kirche hatten sie Anschluß gefunden.

An einem gemütlichen Abend auf einer Gruppenreise erzählten wir, wie wir unsere Männer kennen lernten. Eine der Frauen berichtete zaghaft: "Ich habe gar nicht den Mann geheiratet, sondern die fünf verwaisten Kinder. Die Mutter war gestorben und ich beobachtete, wie die Kinder immer mehr verwahrlosten. Da sagte ich meinem Vater, daß ich diesen Mann heiraten werde, um die Kinder zu versorgen. Er war entsetzt, aber ich übernahm die Aufgabe, den Kindern die Mutter zu ersetzen. Wir wurden eine glückliche Familie. Ich bekam noch das sechste Kind. Dann begann der Krieg und mein Mann fiel in den ersten Kriegsjahren. Ich versuchte, die Familie zu versorgen und zusammen zu halten."

Wir wurden alle still und fragten auch nicht mehr. Aber sie hatte uns noch etwas verschwiegen.

Das erfuhren wir erst auf ihrer Beerdigung vom Pfarrer und der Familie. Nach Kriegsende brach in Westpreußen Typhus aus. Ihre Schwester, wie sie Witwe mit fünf Kindern, erkrankte und starb. Nun waren die Neffen und Nichten polnische Waisenkinder und sollten in ein polnisches Waisenhaus. Eine Nichte berichtet: "Wir klammerten uns an Tantes Rockzipfel und bettelten, wir wollen bei dir bleiben, bitte, bitte behalte uns."

Tante konnte nicht anders - sie versorgte nun 11 Kinder! Davon war nur ein Kind ihr eigenes. Diese kleine ruhige Frau hat es geschafft, den Kindern ein zwar karges aber liebevolles "Zuhause" zu schaffen.

Noch als Erwachsene war aus dieser zusammengewürfelten Kinderschar eine echte Gemeinschaft geworden, die sich gerne an die Stiefmutter, Tante und Mutter erinnerten. "Es war eine schöne Kindheit und zum Streiten hatten wir gar keine Zeit", war die allgemeine Meinung der großen Familie.

Empfohlene Zitierweise:
Bornkessel, Helene: Stiefmutter?, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/helene-bornkessel-stiefmutter.html
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