Dieser Beitrag wurde von Herbert Engemann (1923-2016) in den 1990er Jahren verfasst.
1947 zur Antifa-Schule
Was war jetzt zu tun? Die Kommandos waren vorbei, die Häuser waren gedeckt. Was sollte ich jetzt machen? Ich war zu nichts zu gebrauchen. Da sagte der Großkurt wieder: „Du hast doch Abitur.“ „Ja.“ „Ich muss einen melden, der zur Antifa-Schule geht. Vier Wochen. Gute Verpflegung, Lektüre usw., Philosophen.“
Das ist der Job! Ich ging also vier Wochen zur Antifa-Schule. Es hat mir Spaß gemacht, das Lernen. Ich habe den Marx gelesen, Lenin, ach, was für tolle Ideen! Junge, das haben sie dir alles gar nicht erzählt, die Nazis. Proletarier aller Länder, vereinigt euch, solche Sachen! Und dann wurden wir geprüft. Das war alles sehr einfach. Und dann hieß es: „Sie haben so gut abgeschnitten, Sie gehen nochmal drei Monate.“
Und ich sah dann dahinter, was da los war. Man bildete Leute aus für die DDR. Es war ja inzwischen 1947. Sie wollten also Funktionäre haben für die DDR. Und das war nicht mein Fall.
Nach zwei Jahren eine Postkarte
Nach zwei Jahren hatte ich eine Postkarte schreiben können, das ging über das Rote Kreuz. Ich schrieb also: „Ich lebe und hoffe, dass ich bald nach Hause komme. Habt Ihr noch die eingeweckte Gänsebrust?“ Meine Eltern schrieben zurück.
Sie hatten Wert daraufgelegt, dass ich, wenn ich zurückkam, eine Gänsebrust bekomme. Weihnachten brauchten wir Gänsebrust. Ja, und dann schrieben die Eltern: „Wir leben auch. Leben bei Bremen. Die Gänsebrust ist leider verschimmelt, aber Du kriegst eine neue.“
So habe ich mich also durchgeschlagen. Ich musste dann Schulungen halten und wurde auch protegiert. So schob ich eigentlich so eine ganz gute Kugel. Aber ich wollte nicht auf eine Antifa-Schule nach Moskau!
Arbeitsbrigade
Da bin ich dann eingeteilt worden als Posten für eine Arbeitsbrigade. Das war uns ganz lieb. Wir Deutschen haben natürlich die Kameraden nicht irgendwie drangsaliert. Die Österreicher haben da schon mehr getan. Ich stand dann also da, wenn die arbeiteten und zählte die Leute. War so ein bisschen „Noworowtschi“. Die haben dort Ziegelsteine geschleppt. Und da habe ich auch interessante Begegnungen gehabt.
Da kam ich mal in so eine Ziegelei, wo so nette junge Mädchen arbeiteten. Ich fragte: „Was machen Sie denn hier?“ Und die konnten Deutsch. „Ja, wir wollten mit unserem Natschalnik [Vorgesetzter] nicht schlafen und da hat er uns gleich eingeteilt, hier in der Ziegelei Steine zu backen.“
Der Natschalnik und seine Geliebten
Der Natschalnik hatte viele Geliebte. Für diese Geliebten mussten wir jeden Mittag Steine holen. Da baute jede ein Haus, schwarz, so musste der Staat beschissen werden. Und dann gab es immer folgendes Ritual: Wir luden den LKW mit Steinen. Fuhren zum Tor. Wir durften nicht raus, wir hatten keine Bescheinigung. Also drehte er den Wagen auf, dass der Diesel rein kam in das Wächterzimmer. Und da stürzten die Frauen – das waren alles Frauen – stürzten raus, machten das Tor auf, dass wir nur wegkamen und dann fuhren wir zu irgend so einer Hütte und legten dort die Steine ab. Dafür gab es für jeden 20 Rubel. Davon konnte man dann schon in der Kantine Margarine kaufen. Jeden Mittag dasselbe Ritual.
Dann hatte ich so eine gewisse Bewegungsfreiheit, konnte also mich im Umkreis von ein paar hundert Metern bewegen und kam dann einmal in ein Geschäft, in ein Bäckergeschäft. Ich hatte ja nun Rubel und wollte etwas kaufen. Da kam dieser Natschalnik. Und die Frauen standen da vor der Theke, die armen hungrigen russischen Frauen! Und der Natschalnik kam und sie wichen zur Seite. Eine Frau hat gemeckert. Da dreht der sich nur rum „Kak Familia? (Wie heißt die Frau?)“ Und die lief schnell weg, dass sie nicht in den Gulag kam. Das war also der Stalinsche Sozialismus!
„Kommst du raus?“
Und ich habe keinen russischen Posten getroffen, der nicht einen Verwandten im Gulag hatte, der Vater, die Tante, die Mutter, einen Sohn. Man hatte ein Schwein geschlachtet, ein Huhn genommen, zack! Das war also das System. Ich kann nur sagen, diese ganzen russischen Soldaten und Posten haben uns immer vertröstet, dass wir nach Hause kommen. Und als wir nicht fortkamen, hatten die Tränen in den Augen. Ich kann nur sagen, nachdem, was wir denen angetan haben und nach diesem Befehl Hitlers, alles zu erschießen, kommen die Russen bei mir vom Menschlichen her ganz groß raus. So gingen die Jahre dahin, es war 1948, es war 1949. Nun war Adenauer da — Gottseidank! Dann kamen die großen Rücktransporte. Da war für mich die große Frage: „Kommst du raus? Kommst DU raus?“ Denn die könnten ja sagen, du hast jetzt schon drei Monate Schulung, du kommst jetzt nach Moskau. Wir haben inzwischen die DDR. Das war dann mein Zittern.
Und nun ging der Transport ziemlich reibungslos ab. Wir kamen nach Ostberlin. Da konnte man abends ausgehen. Wir mussten am nächsten Tag wieder da sein, aber konnten in die Stadt gehen. Da kam einer an und gab mir ein Präservativ. „Zur Vorsicht, die Mädchen, die ostzonalen Mädchen sind alle krank.“
An der Grenze
Und dann kamen wir an die thüringische Grenze ins Eichsfeld, Heiligenstadt. Da ging es über die Grenze. Ich wusste, dass sie an der Grenze noch Leute zurückholen. Ich war ja nun andersherum. Ich war Spezialist, russischer Spezialist schon.
Ich sah den russischen Posten dort stehen, Glatze, aufgepflanztes Bajonett. Zwei Meter weiter den Engländer, englischen Offizier, Käppi, wehende Bänder, keine Waffe, ein kleines Stöckchen. Ich sagte mir, da musst du hin, du musst da hin!
Es ging aber reibungslos. Als ich ankam, wurde ich sofort verhört. „Herr Engemann, Sie sind da. Wir haben Sie schon lange erwartet. Sie sind Abiturient. Haben das und das gemacht, Sie brauchen nichts zu erzählen. Ich erzähle Ihnen mal, wo Sie waren, Sie waren ... dort und dort, Sie haben ... das und das gemacht. Die Kameraden haben für Sie ausgesagt, dass Sie sich immer anständig verhalten haben. Wissen Sie, wer Sie bespitzelt hat? Das war das Mitglied des CVJM aus Württemberg, den hatte die NKWD auf Sie angesetzt. Was wollen Sie denn jetzt machen, wo wollen Sie hin?“
Ich sag: „Ich will studieren.“ „Ja, Gott, machen Sie das. Studieren Sie.“ Gottseidank, das war mein Empfang im Westen.
Aber dann kam ich unter den Röntgenschirm: Schatten auf der Lunge. Es ging erst mal nach Hause. Die Eltern waren in Goslar.
Zur Person
Herbert Engemann wird 1923 im oberschlesischen Hindenburg (Zabrze) geboren. Nach Abitur und Kriegseinsatz gerät er 1945 in russische Kriegsgefangenschaft, aus der er 1949 entlassen wird. Anschließend studiert er in Göttingen Latein und Geschichte. Das Studium schließt er mit einer Promotion ab. Nach dem Referendariat in Dortmund arbeitet er ab 1958 als Lehrer am Gymnasium Marianum in Warburg. 1974 wird er Schulleiter des Städtischen Gymnasiums Brakel (ab 1982 Petrus Legge-Gymnasium). Neben seiner beruflichen Tätigkeit forscht und publiziert er zu verschiedenen Themen der Stadtgeschichte Brakels, insbesondere zur Geschichte und zum Untergang der jüdischen Gemeinde der Stadt. Er trägt zur Gründung des Stadtmuseums Brakel bei sowie zur Errichtung eines Gedenksteins für jüdische Bürgerinnen und Bürger der Stadt, die während der NS-Zeit ermordet wurden. 1996 wird ihm das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen. Herbert Engemann stirbt im September 2016 in Calden.
Empfohlene Zitierweise:
Engemann, Herbert: Die letzten Jahre der Kriegsgefangenschaft und der Weg nach Hause, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/herbert-engemann-die-letzten-jahre-der-kriegsgefangenschaft-und-der-weg-nach-hause.html
Zuletzt besucht am: 21.12.2024