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Hermann Lohmann: Flucht nach Hause über den Fluss Saale

Dieser Eintrag wurde von Hermann Lohmann (*1925) im Jahr 2010 verfasst.

Weiter ging es in Richtung Harz zur Saale zwischen Naumburg und Weißenfels. Anhand der Karte überlegte ich, wie wir am besten und ungeschoren zwischen den beiden Städten hindurch über die Saale kommen könnten. Landkarten der jeweiligen Gegend erhielt ich entweder von der Bevölkerung oder von Soldaten, die ich unterwegs traf. Es wurde getauscht. Soldaten, die nach Süden gingen, erhielten meine Karte und ich bekam eine nördlichere dafür. Ich entschloss mich, es bei der Öblitz-Mühle, die ja nach der Karte zu urteilen, ziemlich einsam in der Mitte zwischen beiden Städten lag, zu versuchen. Also zogen wir auf Feldwegen dorthin. Wir standen dann doch etwas ratlos an der damals reißenden, Hochwasser führenden Saale. Uns kamen Zweifel, ob wir es schaffen würden, diesen Fluss am nächsten Tag zu durchschwimmen. Als wir so dastanden und überlegten, trat ein Mann zu uns heran, der wohl aus der Mühle gekommen war und uns Soldaten in Uniform gesehen hatte. Mit Schrecken bemerkten wir, dass er eine weiße Armbinde trug, auf der "Police" stand. Es war ein Pole, der als Polizist eingesetzt war. Er sprach gut Deutsch. Er fragte: "Wo wollt Ihr hin." Wir sagten: "Wir wollen über die Saale und dann weiter nach Hause". Er sagte dann: "Ich habe hier ein Boot. Ich bringe Euch rüber. Ich muss nur eben meinen Kameraden Bescheid sagen." Als er in der Mühle verschwand, sagten wir zueinander: "Hiermit ist unser Weg nach Hause beendet. Wir haben keine Chance, hier zu entkommen, ohne Gefahr zu laufen erschossen zu werden. Also bleiben wir hier stehen und warten."

Nach kurzer Zeit kam der Pole zurück. Er bat uns, in ein Boot zu steigen, das neben uns auf dem Wasser lag und an einem Pfahl festgebunden war. Dann ruderte er uns über die Hochwasser führende Saale. Am anderen Ufer angekommen, rauchten wir noch gemeinsam eine Zigarette. Mein Kamerad wollte dem Polen ein Frontkämpferpäckchen, das Schokolade und Zigaretten enthielt, schenken. Doch der Pole lehnte ab. Er sagte: "Behaltet das man selber Ihr braucht es nötiger als ich. Ich habe genug davon. Kommt gut nach Hause." Dann ruderte er zurück. Wir winkten einander noch zu. Dann zogen wir weiter. Dieses Erlebnis ist mir stets im Gedächtnis geblieben. Seitdem sage ich immer: "Es gibt in jedem Volk der Erde gute und schlechte Menschen. Man sollte nicht verallgemeinern und sagen, die Deutschen oder die Polen sind schlecht."

Empfohlene Zitierweise:
Lohmann, Hermann: Flucht nach Hause über den Fluss Saale, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/hermann-lohmann-flucht-nach-hause-ueber-den-fluss-saale.html
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