Zeitzeugen > Nachkriegsjahre

Horst Lippmann: Kohlenklau

Dieser Beitrag wurde von Horst Lippmann (*1933) aus Hamburg im August 2000 verfasst.

Bitterkalte Winter

Die Winter waren früher, das heißt zu unserer Kinderzeit, immer bitter kalt. Da fiel das Thermometer manchmal schon bis auf zwanzig Grad unter Null. Wir bekamen Heizmaterial zugeteilt und mußten damit einen Winter lang auskommen. Das klappte auch ganz gut.

In der Küche wurde der große Herd befeuert. Er war so groß, daß einige Kochtöpfe darauf Platz hatten. An einer Seite hatte er manchmal einen eingebauten Kupferkessel für heißes Wasser, was man für alles Mögliche benutzen konnte. In unserem Herd war ein emaillierter Kessel mit kleinem Wasserhahn zum Wasser auslaufen lassen. Fast rings herum war am Herd eine Kupferstange befestigt auf der man Handtücher und Kleidung trocknen konnte. Weil mit dem Heizmaterial sparsam umgegangen werden mußte, wurde nur noch der große Kachelofen im Wohnzimmer angeheizt. Die anderen Räume blieben kalt. Da kam es öfter vor, daß sich bizarre Eisblumen auf den damals einfachen Fensterscheiben bildeten. Wollte man nach draußen sehen, mußte man sich ein kleines Guckloch hauchen. Auch das war nach einiger Zeit wieder zugefroren.

Im Schlafzimmer wurde nicht geheizt. Wenn wir zu Bett gingen, hat einer dem Anderen das Federbett erst einige Minuten am Kachelofen im Wohnzimmer angewärmt und ist ins Schlafzimmer gelaufen, um den Anderen zuzudecken. Wunderschön kuschelig warm wurde das Bett gleich. Das machte jede Familie so, oder ähnlich.

Plakate mit dem "Kohlenklau"

Waren wir in der Stadt unterwegs, sah uns von großen Plakaten ein schwarzer Mann an, der auf seinem Rücken einen Sack trug, der "Kohlenklau". Seine Plakate waren an Türen von öffentlichen Gebäuden befestigt, an Litfaßsäulen, an den Wänden von Toreinfahrten und an einigen Waggons der Güterzüge, die mit Kohlen beladen waren. Der Kohlenklau sollte uns zu Sparsamkeit mit kostbarer Energie animieren. Außerdem sollte uns der schwarze Mann daran erinnern, daß für die Kriegsführung viel Energie benötigt wird. An den Kohlenzügen sollte es eine Warnung ausdrücken, daß sich niemand am Allgemeingut Kohle bereichern durfte. Sonst drohte eine hohe Strafe für diejenigen, die erwischt wurden. Das alles galt bis zum 8. Mai 1945, bis zum Ende des Krieges.

Als dann der Winter 1946/47 noch kälter als die anderen Winter zuvor wurde, und wir immer noch sehr wenig Brennmaterial bekamen, begannen die überfallartigen Kohlenklaus auf die Güterzüge, die mit Kohlen beladen waren. Auch dabei durfte sich niemand erwischen lassen. Mein Freund und ich wurden nicht erwischt. Allerdings waren wir beiden großen Jungs auch nur einmal auf Kohlenklautour.

Kohlenklautour

Von einigen Erwachsenen hörten wir, daß es beim Bahnübergang Luethgensallee sehr günstig sein sollte. Die Züge fahren mit Kohlen beladen vom Wandsbeker Güterbahnhof Richtung Lübeck ganz langsam ab und erreichten bis zum Bahnübergang etwa zehn Stundenkilometer Geschwindigkeit. Gerade noch so langsam, daß man am Bahnübergang gut mitlaufen konnte. Das wollten mein Freund und ich auch ausprobieren. Schließlich haben auch wir in dem besonders kalten Winter schrecklich gefroren. Lange Zeit mußten wir mit unserem Gewissen kämpfen, denn wir hatten immer und überall den Kohlenklau in Erinnerung, der uns während des Krieges von den Plakaten drohend ansah. Endlich probierten wir die abenteuerliche Aktion, nachdem wir uns gegenseitig ganz viel Mut gemacht hatten. Wir wußten auch inzwischen, daß fast jeden Nachmittag vom Wandsbeker Güterbahnhof ein mit Kohlen beladener Zug abfuhr. Am nächsten Tag waren wir pünktlich am Bahnübergang Luethgensallee.

Es hatten sich schon einige Männer, Frauen und große Jungs dort eingefunden. Alle hatten Taschen, Säcke und Beutel bei sich. Die Spannung stieg! Der Zug kam mit langsamer Fahrt auf uns zu. Beim Bahnübergang liefen alle mit dem Zug mit. Einige Männer stießen mit langen Holzlatten die Türriegel der Waggons auf, und die Briketts prasselten mit großer Wucht neben den Bahndamm. In affenartiger Geschwindigkeit sammelten wir die Briketts in unsere-Beutel, Taschen und Säckchen, soviel wir schleppen konnten.

Auf diesem Zug standen auf einigen Wagen Polizisten von der Bahnpolizei als Begleitschutz. Sie bewarfen uns mit Kohlen, in der Hoffnung, und verscheuchen zu können. Das hatten sie nicht geschafft. Auch hinter der Lokomotive standen der Heizer und der Lokführer. Sie bewarfen uns mit Steinkohle, die für die Lok vorgesehen waren. Wir haben sie aus Schadenfreude angeschrien und ausgepfiffen, und freuten uns, daß keiner von uns getroffen wurde.

Jeder hatte also seine Beutel, Taschen und Säckchen voll bekommen, auch mein Freund und ich. Wir schulterten unsere geklaute Habe, den Rest klemmten wir uns unter die Arme. Dann gingen mein Freund und ich schwer beladen zu Fuß nach Hause. Mit unserem Fahrrad hätten wir dort nicht ankommen dürfen. Das hätten andere Diebe uns geklaut.

Empfohlene Zitierweise:
Lippmann, Horst: Kohlenklau, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/horst-lippmann-kohlenklau.html
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