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Horst Lippmann: Zwei oder drei Bäume blieben stehen

Dieser Beitrag wurde von Horst Lippmann (*1933) aus Hamburg im Jahr 2001 verfasst.

Lebensmittelkarten

Es war die Nachkriegszeit, wo jeder Bewohner eine Lebensmittelkarte besaß. Alles wurde uns zugeteilt, so auch das Brennmaterial zum Heizen und Kochen. Der Winter 1947 war eigentlich nach meiner Erinnerung der kälteste Winter in meinem Leben. Das Thermometer sank sehr oft auf 20 Grad minus. Wir hatten in jedem Zimmer einen großen Kachelofen, der in einer Ecke stand. So ein Kachelofen war wunderbar. Manchmal setzten wir uns davor rücklings auf einen Stuhl. So konnten wir unseren Rücken am Ofen gut wärmen. Die meisten Kachelöfen hatten oben eine Öffnung mit einem kleinen Metalltürchen. Für uns war es die Bratapfelröhre. Meine Oma und meine Mutter machten oft für uns Bratäpfel zum Nachtisch, oder auch einfach zum Zwischendurchessen. "Ein heißer Bratapfel wärmt den Körper schön durch", sagte Oma immer.

In diesem sehr kalten Winter allerdings konnten wir nicht in jedem Zimmer den Ofen beheizen. Unsere Kohlenzuteilung war schneller als sonst aufgebraucht. In den ungeheizten Räumen bildeten sich nachts durch die starke Kälte bizarre Eisblumen auf der Fensterscheibe. Wer ausgucken wollte, mußte sich erst ein Guckloch in die Eisblumen hauchen.

Ebenso wie uns ging es natürlich auch unseren Nachbarn und allen anderen Menschen. Einige Familien hatten sich irgendwo her, vielleicht auf dem schwarzen Markt, einen Kanonenofen besorgt. Er wurde an einem Rohr angeschlossen, was durch die Außenwand ragte. Für solch einen Kanonenofen brauchte man nicht so viel Brennmaterial.

Bäume verschwanden nach und nach

Wir stellten bald fest, daß es im Wandsbeker Gehölz immer Lichter wurde. Es verschwanden nach und nach mehr Bäume, einfach so über Nacht. Das war überhaupt nichts Besonderes mehr, und deshalb hatten wir uns daran schon gewöhnt. Als allerdings eines Morgens der große Straßenbaum vor unserem Grundstück plötzlich nicht mehr dastand, waren wir alle sehr erstaunt, vielleicht sogar etwas traurig. Wir trösteten uns damit, daß jemand wohl auch sehr frieren mußte. Opa jedoch sagte dann immer: "Oh, oh, das darf man nicht machen, das ist doch Staatseigentum, das ist Diebstahl!" Ich hatte überlegt, wie man so einen großen Baum fällen, zerteilen und abtransportieren kann, ohne daß wir etwas davon merken. Und außerdem dachte ich, daß wir ja alle frieren würden. So war die Tat der schnellen Baumfäller gleich entschuldigt.

Einige Tage später ging ich in der Goßlerstraße nach Hause. Damals nach dem Krieg hieß unsere Straße noch so. Es war früher Abend und natürlich schon dunkel. Ich staunte nicht schlecht, als ich den Straßenbaum vor dem Grundstück unserer Nachbarn frisch angesägt sah. Mir kam gleich der Gedanke, daß jemand angefangen hatte, den Baum zu fällen und dabei gestört worden ist. Ich rannte schnell nach Hause und verbreitete die Neuigkeit gleich im ganzen Haus, besonders meinem Opa. "Ich hab' da einen stark angesägten Baum gesehen. Wir nehmen uns eine große Säge mit und holen uns den Baum." Opa kam natürlich wieder mit seinen Einwänden: "Oh nein, das darf man nicht, das ist Diebstahl." "Aber Opa, komm doch schnell mit. Wenn wir den Baum nicht holen, werden Andere ihn wegnehmen." Ich konnte auch meine Eltern bald von so einer guten Tat überzeugen. Wir holten uns eine große Säge aus dem Keller, und dann ging unsere Nacht- und Nebelaktion los. Wir waren immerhin eine größere Gruppe, nämlich meine Eltern, meine Tante, mein Großvater und ich. Opa natürlich immer mit großen Zweifeln und schlechtem Gewissen.

Es musste schnell gehen

Dann mußte auch alles sehr schnell gehen. Opa und Papa sägten zügig und sicher mit scharfer Säge. Ich konnte gerade noch sagen: "Laßt ihn so umfallen, damit wir den dicken Brocken auf der Straße nicht umdrehen müssen." Im gleichen Moment fiel der Baum in die richtige Richtung. Jeder packte irgendwo am Stamm an, und dann zogen wir den Koloß auf der Straße bis zu unserer Gartenpforte. Wir drehten den Baum und, Gott sei Dank, paßte der Stamm genau durch die Pfortenöffnung. Mit aller Macht und Kraft zogen und zogen wir bis zur Baumkrone. Die mußten wir dann noch über Gartenpforte und Zaun heben, schieben und ziehen. Dabei merkten wir erst richtig, was so ein Baum für ein Gewicht hat. Vorne im Garten zerteilten wir gemeinsam mit großen und kleinen Sägen den Baum in große Stücke, und zogen und schleppten dann die Teile hinter das Haus. Das kostbare Gut konnte ja nicht vorne liegen bleiben. Kleinere Teile nahmen wir schon mal mit ins Haus zum Trocknen. Die nächsten Tage hatte Opa viel Arbeit mit dem weiteren Zerteilen des Baumes. Ich machte mich an den Stubben heran, sobald ich aus der Schule zu Hause war. In mühevoller Maulwurfsarbeit buddelte ich mich durch den gefrorenen Erdboden rings herum an die Wurzeln. Ich hackte hier und da mal ein Stück ab, wühlte mit Axt und Schaufel weiter, bis ich nach zwei Tagen den Stubben in Einzelteilen aus der Frosterde hatte.

Noch viele Wochen danach hatten wir etwas Angst, daß uns jemand angezeigt haben könnte. Unser schlechtes Gewissen ließ nach, weil wir wieder am warmen Ofen sitzen konnten. Im Frühling stellten wir dann endgültig fest, daß nur noch zwei oder drei Bäume, jetzt mit frischen, grünen Blättern als Schattenspender und Zierde unserer Straße stehengeblieben waren.

Empfohlene Zitierweise:
Lippmann, Horst: Zwei oder drei Bäume blieben stehen, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/horst-lippmann-zwei-oder-drei-baeume-blieben-stehen.html
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