Zeitzeugen > Nachkriegsjahre

Irma Weinknecht: Vor 60 Jahren

Dieser Beitrag wurde von Irma Weinknecht (*1923) im Jahr 2007 in Göttingen verfasst.

Als die Amerikaner einmarschierten

So viele Jahre sind seit damals vergangen, aber an manches Ereignis kann ich mich noch sehr gut erinnern, so an die Tage, als die Amerikaner hier einmarschierten. Vorher hatte es Bombenalarme gegeben, auch Granaten krachten über uns hin. So saßen wir am 8.April im Keller und hofften auf das Ende: wir, das waren meine Eltern, die Verwandten meiner Großmutter, die beiden schlesischen Flüchtlingsfrauen. Dazu kamen noch unsere Mieter, ein baltisches Ehepaar mit ihren 5 kleinen Kindern sowie eine Flüchtlingsfamilie mit 4 Kleinkindern. Als der baltische Baron die Treppe herab eilte, um nach seiner Familie zu schauen, stellte sich ihm mein 85 jähriger Großonkel in den Weg. "Wenn ich nur ein wenig jünger wäre, dann würde ich ein Gewehr schultern, um die Heimat zu verteidigen, statt mich hier im Haus sich zu verdrücken!" herrschte er ihn an. (mein Großonkel hatte alle Kriege seit 1864 erlebt, war aber immer zu jung oder zu alt, um mit kämpfen zu können). Ich stürzte an ihnen vorbei auf die Straße, wo ich nun das Motorengeräusch der schweren amerikanischen Panzer hören konnte. Dass noch immer Granaten knallten, erschien mir wenig wichtig - ich wollte die großen, starken, prachtvollen Panzer sehen.

Kurz vor der Ecke an der Merkelstraße - sie rollten die Herzberger Landstraße hinauf - standen plötzlich alle still, die Besatzungen sprangen heraus - und verkrochen sich im Rinnstein. Die Sieger im Rinnstein! Die Soldaten robbten langsam voran, immer sorgsam in Deckung, und änderten dann die Richtung, nun ging es zur Befehlsstelle des Kreisleiters, der gerade eben erst zur Verteidigung der Stadt aufgerufen hatte.(Heute ist es das Goethe-Institut.) Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig hatten wir das Manöver beobachtet …fassungslos staunend. Aber keiner von uns wusste ja, dass der Kreisleiter sich abgesetzt hatte und in Richtung Harz geflüchtet war. Welch ein Anblick: die amerikanischen Sieger im Rinnstein robbend und die besiegte Bevölkerung voll Interesse zu ihnen hinunter gaffend! Am Abend brauchten die Amerikaner dann Quartiere für die Soldaten. Unsere ruhige Dahlmannstraße fand ihr Interesse und Haus für Haus wurde nun für die Truppen requiriert. Als sie nun auch unser Haus betraten, wurden sie von den 9 Kleinkindern und den 7 "Greisen" so erschreckt, dass sie unser Haus freigaben und abzogen. Wir waren das einzige, nicht belegte Haus!

“Deutschland, Deutschland über alles…“

Am Abend, bei untergehender Sonne, als alles bei uns erschöpft in den Sesseln saß, ertönte laut durch die geöffneten Fenster vom Nebenhaus her, einem der requirierten, das "Deutschland Lied" - "Deutschland, Deutschland über alles…" - das heißt, es war es gar nicht, sondern Haydns Kaiserquintett, dessen einer Satz zur Nationalhymne wurde. Die Gefühle kann man nicht beschreiben! Meinem Vater traten die Tränen in die Augen - der zweite verlorene Krieg, der gefallene Sohn, die ganze Situation. Nach den letzten Tönen bat er um ein Glas Wein. Der war ihm seit 30 Jahren streng verboten wegen der Schussverletzung am Gehirn im 1.Weltkrieg. "Was kann mir d a s noch schaden.." erklärte er und von nun an habe ich ihm bis an sein Lebensende täglich sein e i n e s Gläschen Wein gebracht.

Als die Amis weiter zogen, übernahmen die Engländer die Besatzung und zunächst auch die requirierten Quartiere. Um es den Soldaten ein wenig behaglicher zu machen, zog ein städtischer Angestellter mit einem Engländer von Haus zu Haus auf der Suche nach bequemen Sesseln. Es klingelte und eine Stimme rief von unten herauf: "Wir kommen wegen Sesseln." Das animierte meine Mutter ungemein. Freudig begrüßte sie die beiden Männer mit den Worten: "Das ist aber schön! Kommen Sie herein und sehen Sie sich dieses Trümmergestell von Sessel an. Wie soll ein Schwerkriegsbeschädigter darauf sitzen? Wann können Sie denn liefern?" und führte sie zu unserem ältesten Sitzmöbel. Die Männer waren total verblüfft ob so viel Ahnungslosigkeit, und somit waren alle weiteren Sessel der Wohnung gerettet.

Dem Tod die Ehre erwiesen

Meine Breslauer Großtante hatte die ungeheure Anstrengung der Flucht nicht lange überlebt. Wie vielen Menschen war unser Haus die letzte Zuflucht gewesen - so auch der alten Schlesierin. Aber diesen Trauerfall werde ich niemals vergessen. Die Männer der Bestattungsfirma Benstem kamen und trugen den einfachen Sarg die vielen Stufen hinunter und dann durch den Garten zur Straße, wo schon das schwarze Fahrzeug wartete. Gerade in diesem Augenblick näherte sich ein Trupp englischer Soldaten aus dem Haus gegenüber. Und ohne Kommando standen plötzlich alle Uniformierten still aufgereiht und grüßten in strammer Haltung den Sarg. Sicher galt es nicht der alten schlesischen Frau, sondern hier wurde dem Tod die Ehre erwiesen. Nie wieder habe ich das erlebt, in all den 60 Jahren nicht, die seitdem vergangen sind…

Empfohlene Zitierweise:
Weinknecht, Imra: Vor 60 Jahren, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/irma-weinknecht-vor-60-jahren.html
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