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Johann Müller: Kriegsgefangenschaft in Großbritannien

Dieser Beitrag wurde von Johann Müller (*1923) 2001 in Burghaslach verfasst.

14.03.1946

Wir sind in Liverpool angekommen. Dann kam die Bahnfahrt bis Oldham, Lager 176 Glen Mill (eine alte Webereifabrik mit einem Fabrikschlot), genannt „Genickschusskeller“. In einem Raum waren ca. 1.000 Mann untergebracht. Fritz S., Bruno und Emil waren noch hier.

15.03.1946

Heinrich B. kam mit dem ersten Transport weg. […] Meine neue Gefangenen-Nr.: D 866 082. Nun wussten wir, dass wir vorerst nicht nach Hause kommen werden. Wir sind nach England gekommen, um zur Arbeit eingesetzt zu werden. Der Ami verkaufte uns weiter. Jetzt hatten wir uns schon damit abgefunden. Ältere, schon verheiratete Gefangene, hatten es schwerer. Laut Zeitung sollen zweieinhalb Millionen Gefangene beim Engländer sein und sollen noch ein Jahr bleiben.

23.03.1946

[…] Ich und noch viele waren stark erkältet. Nur nachmittags gab es im Lager Auslauf bei ständigem Nebel.

03.04.1946

Lektüre „Hauffs Werke“. Da berichte ich nun von einem tragischen Kameradschafts-Diebstahl.

Dem Betroffenen wurden über Nacht die Brille, Hose und noch mehrere Sachen gestohlen. Er stand auf einmal hilflos da, vor allem wegen der fehlenden Brille. Der Täter aus dem unteren Stockwerk konnte ermittelt werden und wurde bestraft. Ab sofort konnten die Klos über Nacht nicht aufgesucht werden, weil man die Eingänge der Säle verbarrikadiert hatte. Nur einige Kübel (nicht genügend) waren für die Notdurft da; früh schwamm die ganze Ecke des Saales. Es waren mehrere Tage lang unvorstellbare Zustände.

11.04.1946

Abends war ein Passionsgottesdienst gewesen; mein Konfirmationsspruch wurde sehr gut ausgelegt: „Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme.“

18.04.1946

Wir wurden mit dem LKW nach Bury in ein Durchgangslager gefahren (wieder ein Fabrikgebäude).

19.04.1946

Karfreitag; abends war Gottesdienst mit Abendmahl, großer Zulauf. Samstag und Sonntag und Montag jeweils wieder Gottesdienst mit Musik (ca. 250 Mann). Wir hörten eine sehr gute Osterpredigt (zwei Pfarrer im Wechsel[…]).

24.04.1946

Abends traf ich Georg […], der aus Belgien gekommen war (er war bei der SS gewesen). In Belgien ist es ihnen nicht gut gegangen. Ich, als reicher Amerikaner, half ihm mit einigen Sachen (Strümpfen usw.) aus.

[…]

29.04.1946

Wir kamen wieder zurück nach Oldham.

27.05.1946

Endlich kam die Abfahrt zum Lager Tarporley (ca. 30 Meilen südlich von Manchester). Hier war ein Kaliwerk, Landwirtschaft und auch ein Sägewerk. In unserer Baracke waren Vater und Sohn in Gefangenschaft. Hier waren schöne Gottesdienste mit Lesepredigten von Luther und von Professor Thielicke, gehalten von einem Studienrat Oskar T. (auch ein Gefangener). Ich arbeitete im Kaliwerk: Rost abklopfen, Kohlenschlacke schaufeln, Backsteine laden, Schuttabfuhr usw. Lektüre: „Wandsbecker Bote“. Bruno, Emil und Fritz waren noch hier.

20.06.1946

Mit Schmerzen an Knie und Drüsen und mit Fieber musste ich ins Revier. […]

29.06.1946

Ich wurde vom Revier wieder entlassen.

12.07.1946

Heute hatte ich die erste Post von zuhause hier in England bekommen und ein Paket mit geröstetem Kuchen […].

09.08.1946

Endlich mal musste ich am Geburtstag nicht arbeiten. Kaffee und Kuchen, schönes Wetter, ein kleiner Spaziergang direkt in die Natur, ein Paket von zuhause – was will ein „Prisoner“ noch mehr?

02.09.1946

Hier hatte die „Latschenfabrikation“ (Hausschuhe aus geflochtenem Sackfädenmaterial[…]) begonnen. Ich war der Hersteller und Bruno der Verkäufer. Abschied von Oskar T.; ein Büchlein als Geschenk („Jünger“ von Otto Dibelius).

14.09.1946

Mit LKW fuhren wir zum Lager 189 [in] Marbury Hall (bei Northwich in Cheshire nahe dem Great Budworther See [Budworth Mere]). Arbeit war wieder im Kaliwerk. Hier war auch eine Lagergemeinde mit Pfarrer Abshagen. Ich besuchte die Lagergemeinde. Endlich ist von Willi [Anm. d. Red.: Johann Müllers Bruder] aus Russland Post vom 25.08. gekommen, wie ich von zuhause erfahren habe und dass Onkel Heinrich in Amerika gestorben ist.

13.11.1946

Martin Niemöller [Anm. d. Red.: deutscher Theologe und Widerstandskämpfer der Bekennenden Kirche], der sich z. Zt. In England aufhielt, kam in unser Lager. Abends sprach er zu den Kriegsgefangenen. Der Raum war natürlich zu klein, daher wurde mit Lautsprechern nach außen übertragen. Ich konnte nicht mehr in die Baracke kommen, nur mal zum Fenster reinschauen.

Beim Abendessen fragte Niemöllers Frau einen Gefangenen: „Wie lange bleiben sie noch in England?“

Antwort: „Bis 1950.“

Frau Niemöller. „Das glaub ich nicht, wer sagt das?“

Antwort: „Niemöller sagte das.“ (Das hatte man Niemöller irgendwie angehängt.)

[…]

08.12.1946

Habe mich bei Pfarrer Abshagen verabschiedet.

09.12.1946

Nun kam die Abfahrt zum Lager 241 Atherstone bei Coventry, leider ohne Bruno, aber mit Fritz S. auf einer Baracke; erst Blechbaracken, später Umzug in normale Baracken. Arbeiten waren: bei Straßenbau, in Siedlung, in Ziegelei usw. Eine Lagergemeinde mit Pfarrer Hans B. (B. war mir schon bekannt vom Durchgangslager Bury). Es war eine lebendige Gemeinde mit einer „Abendwache“, bei der ich mich öfters beteiligte.

25.12.1946

Gottesdienst in der Stadtkirche Atherstone mit Orchester und Chor

(Schluss von Händels Messias und ein Teil der 12. Messe von Mozart). Jetzt hatten wir Ausgang ohne Bewachung. Ein Brief von daheim berichtete, dass Schorsch am 05.12. aus Kanada heimgekommen ist.

01.01.1947

Heute war Arbeitstag für uns.

11.01.1947

Über 20 % im Lager waren krank; auch die Kirchenbaracke wurde mit Kranken belegt.

09.02.1947

Wegen Schneefall waren wir zwei Wochen nicht auf Arbeit.

01.03.1947

Es hatte so viel geschneit, dass viele Dörfer eingeschneit waren. Wir mussten eine Woche lang Schnee schaufeln. Wegen schlechtem Schuhmaterial hatte ich oft nasse Füße. Es waren keine schönen Tage.

03.04.1947

Gründonnerstag abends war die 12. Messe von Mozart geboten. Am Karfreitag konnten wir [abends] in der Marienkirche in Atherstone dem „Messias“ von Händel lauschen (Chorgemeinschaft und Orchester). Am Karsamstag war dann Gottesdienst mit Abendmahl in der English Church in Polesworth.

11.05.1947

Sonntagnachmittag gingen wir zu Fuß nach Leards Hill zum Gottesdienst bei den Quäkern […]. Nachher gab es Kaffee und Kuchen im Freien. Es war schönes Wetter.

11.05.1947

Es kam ein neuer Lagerpfarrer Dr. Ludwig Reinhold (er hielt auch Vorträge über Goethes Faust usw.). […]

18.07.1947

Wir zogen um ins Lager 196 (Südlager). Fritz S. war noch bei mir in einer Baracke […]. Es wurde bekannt, dass wir noch zum Ernteeinsatz nach Schottland kommen sollen.

28.08.1947

Es kam Abmarsch zum Lager 17 (Schottland).

28.08.1947

Ankunft in einem Hostel. Alle Bekannte hatte ich nun hinter mir gelassen. Einsätze bei Farmern waren nun angesagt: Kartoffelernte, Rübenernte, Dreschen usw. Hier gab es interessante Erlebnisse.

07.09.1947

Ich war drei Wochen im Revier; ein tiefliegendes Geschwür am Bein musste aufgeschnitten werden. Manche machten bei den Bauern Schwarzarbeit, um sich zusätzlich noch was zu verdienen.

13.11.1947

Es war dann der Umzug ins Lager 77, Ladybank, wo wir auf die Heimreise warteten. […] Dann kam noch Weihnachten und der Jahreswechsel, den wir hier verbrachten. Alle Gedanken und Tätigkeiten waren nun auf die bevorstehende Heimreise gerichtet. Ich machte des Öfteren eine Verladeübung (Seesackpacken usw.), damit alles, wenn es soweit ist, auch untergebracht werden konnte.

1948.

Anfang Januar ging dann die Fahrt in Richtung Heimat. Die Überquerung des Kanals auf einem kleineren Schiff war für viele und auch für mich noch eine Rosskur. Auf allen hinter mir gebrachten Seereisen hatte es mich nicht so radikal gewürgt wie bei der nur wenige Stunden dauernden Überfahrt des Kanals. Gut, dass es nur wenige Stunden waren.

24.01.1948

Da war in etwa die Ankunft in Hammelburg. Dort erhielten wir unsere Entlassungspapiere.

26.01.1948

Ich wurde entlassen und fuhr dann mit Kameraden (mit großem Seesack und einer Tasche) bis Bamberg. Dort verbrachten wir die Nacht im Warteraum, ohne schlafen zu können, denn es musste ja unser wertvolles Hab und Gut bewacht werden Wir wechselten uns ab, wenn einer von uns mal wegmusste.

27.01.1948

Früh rief ich per Telefon zuhause an und wurde dann am Bahnhof Burghaslach von der BayWa [Bayerische Warenvermittlung landwirtschaftlicher Genossenschaften AG] mit einem Lieferwagen abgeholt. Zuhause war die Freude sehr groß, nur Willi war aus Russland noch nicht heimgekehrt.

Zur Person

Johann Müller wird am 9. August 1923 in Burghaslach geboren. Er besucht die dortige Volksschule und absolviert im Anschluss daran eine Ausbildung zum Buchhalter bei der Bayerischen Warenvermittlung landwirtschaftlicher Genossenschaften AG (BayWa). 1942 wird er in die Wehrmacht eingezogen und ist unter anderem an Kämpfen in der Sowjetunion, Griechenland und Italien beteiligt. Ende August 1944 wird er von kanadischen Truppen in Italien gefangengenommen. Mit einem Gefangenentransport kommt er in die USA. Dort lebt er in verschiedenen Kriegsgefangenenlagern und arbeitet in der Baumwollproduktion und einem Armeedepot. 1946 wird er als Kriegsgefangener nach Großbritannien verschifft. Auch hier arbeitet er in verschiedenen Bereichen, beispielsweise in einem Kalibergwerk oder im Straßenbau, ehe er Anfang 1948 nach Burghaslach zurückkehrt. Die Erlebnisse während des Krieges und der Kriegsgefangenschaft hält er in Tagebucheinträgen fest. Nach seiner Rückkehr gründet er eine Familie und arbeitet zunächst wieder für die BayWa und anschließend, bis zu seiner Verrentung 1982 als Disponent. Johann Müller stirbt im März 2022. Die originalen Tagebücher sowie sein Nachlass werden im Fränkischen Freilandmuseum des Bezirks Mittelfranken in Bad Windsheim aufbewahrt.

Empfohlene Zitierweise:
Müller, Johann: Kriegsgefangenschaft in Großbritannien, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/johann-mueller-kriegsgefangenschaft.html
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