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Kurt Elfering: Heimkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft

Dieser Eintrag stammt von Kurt Elfering (*1922). Kurt Elfering berichtet in mehreren Abschnitten von seinem Transport ins Gefangenenlager, über die Lebens- und Arbeitsbedingungen im Lager bis zu seiner Heimkehr Ende April 1948.

Frühjahr 1948 in Gefangenschaft

Ostern 1948 nahte und ging vorbei. Die letzten Schneeschauer versuchten noch, den Winter zu halten. Eines Tages in der 2. Aprilhälfte überschlugen sich die Ereignisse im Kriegsgefangenlager bei Borowitschi, in dem ich seit 1945 war. Beim Verlassen der Werkstattkam mir einer entgegengerannt und rief mir zu: "Die Transport JU ist da!!!"

Die "Transport-JU" war die russische Ärztin, welche die Heimkehrertransporte zusammenstellte. Sie war also die wichtigste Person, die es überhaupt gab. Also die Beine im Nacken und hin zur Ambulanz. Ich kam gerade noch recht. Ausziehen, hinstellen, umdrehen, kneifen lassen und wieder angucken. Dann Stirnrunzeln, Bauch betasten usw. Dann hörte ich das russische Wort "tri" d.h. "drei". Das war die Invalidengruppe. Meine Operationsnarbenhaben die Gruppe 3 möglich gemacht. Am nächsten Tagwurden auch schon die Namen verlesen, und ich war auch dabei! Nun ging alles Schlag auf Schlag. Sauna, neue Einkleidung und nun schon wieder eine Tragödie: Im Handumdrehen hatten wir wieder eine Glatze. Dieses war zwar traurig, war aber eine sichere Heimkehrgarantie. Der 4. Mai: Noch einmal große Heimkehrerschau. Alles Invaliden (Gruppe 3).

Verabschiedung von der Lagerleitung

Am nächsten Tag große Verabschiedung von der Lagerleitung. Am Abend vor dem Tor die letzte große Filzung, wobei man sehr, sehr großzügig war. Dann durften wir in Richtung Borowitschi gehen, total zwanglos und ohne Bewachung. Es waren immerhin bis zum Bahnhof ca. 27 km. Es wurde dunkel und dunkler. Auf einer Wiese vor den Toren der Stadt wurden wir abgefangen und gesammelt. Es waren Russen da, die für uns schon Aufwärmfeuergemacht hatten. Im Morgengrauen ging es dann geschlossen zum Bahnhof. Siehe da: Der Zug stand schon bereit. Wir wurden nochmals verlesen und bekamen unsere Wagen zugeteilt, und dann konnten wir herumrennen, wie wir wollten. Dann setzte sich der Zug in Bewegung, und wir verließen trotzdem mit etwas Wehmut den Bahnhof Borowitschi. In zehn Tagen waren wir zu Hause!

Skora Domoi!

Skora Domoi - Bald geht es nach Hause! Wie oft schon haben wird diese zwei Worte gehört. Nun war es tatsächlich soweit. Wir saßen wirklich in einem Güterwaggon und verließen den Bahnhof Borowitschi in westlicher Richtung. Die Stadt entschwand am Horizont. Das Letzte, was wir noch sahen, waren die Dunstwolken der Industriebetriebe. Ich weiß heute nicht mehr genau, welche Strecke wir fuhren. Die Hauptsache war: Es ging gen Westen. Am Stand der Sonne konnten wir immer unsere Richtung feststellen. Die Verpflegung war relativ gut. Die großen Schiebetürenwaren nicht verschlossen, sodass wir die vorbeigleitende Landschaft genießen konnten. Der Waggon war mit Pritschen ausgestattet, womit wir auch alle einen Liegeplatz hatten. Nach Sonnenunterganglegten wir uns langsam zur Ruhe, und unter der ratternden Musik der Räder hatten wir einen tiefen Schlaf.

Nach einigen Tagen waren wir in Brest. Hier mussten wir umsteigen auf europäische Normalspur und waren dann auch schon in Polen. Von unserer russischen Eskorte sind wir vor den polnischen Soldatengewarnt worden. Angeblich hätten sie deutsche Heimkehrer des öfteren ergriffen und in polnischen Lagern nochmals zur Arbeit eingesetzt. Polnische Frauen dagegen hatten uns an Haltepunkten mit Brot und Plinsen versorgt.

In Warschau abgestellt

In Warschau wurden wir auf einen Verschiebebahnhof geschoben und erst einmal abgestellt. Es dauerte nicht lange, da wurde ein zweiter Zug neben uns geschoben. Das war ausgerechnet ein polnischer Militärtransport, der am Vortag bei der Siegesfeier zum 8. Mai in Warschau teilgenommen hatte. Nun hatten wir Angst um unsere Sicherheit. Unsere russische Begleitmannschaft war nicht besonders stark. Plötzlich wurde von außen unsere Tür geöffnet und polnische Soldatenstiegen in unseren Waggon. Jetzt geschah etwas wundersames. Sie gaben uns Brot und Zigaretten und unterhielten sich mit uns. Später stiegen sie dann ganz friedlich um, wieder in ihren Zug. Also kein "Menschenraub"!

Auffanglager in Frankfurt/Oder

Am nächsten Morgen ging es weiter nach Frankfurt/Oder. Wir wurden ausgeladen und durften noch in einem russischen Magazineinige Stunden Kisten stapeln. Auf der Fahrt allerdings mussten wir noch eine Dankschrift an die Sowjetunion schreiben und unterschreiben. Hierbei mussten wir uns so ganz nebenbei verpflichten, niemals mehr gegen die Sowjetunion anzutreten. Nach dem Arbeitseinsatz in dem russischen Magazin wurden wir dann feierlich von den Russenverabschiedet und dem deutschen Roten Kreuz übergeben. In Gronenfelde, einem Ortsteil von Frankfurt, war das Auffanglager des Roten Kreuzes. Hier hatten aber die Antifaschisten der SED das Sagen. Sie machten uns den Westen mies und sammelten Unterschriften für ihre Resolutionen gegen die Machenschaften der westlichen Alliierten. Jedes Mal wenn wieder einer auftauchte, liefen wir weg und wurden als neue Faschisten beschimpft.

Weiter nach Friedland

Am nächsten Morgen: Fertigmachen der Westzonenbewohner, der Transport nach Friedland wurde zusammengestellt. Es ging dann alles sehr schnell. In Erfurt hatten wir eine Zwischenstation. Irgendwo in der Nähe des Domes bekamen wir ein Mittagessen, richtig mit Tischdecken, Tellern und Besteck. Für uns etwas ganz Neues. Dann wieder zum Zug, und weiter ging es der Grenze entgegen. An irgendeinem kleinen Bahnhof war Schluss. Im Wartesaal und in den Nebenräumen wurde übernachtet. Am frühen Morgen ging es dann zum Übergang.

Wir sahen schon von weitem die jeweiligen Flaggen der Besatzungsmächte. Vor uns die Sowjetflagge, weiter weg jenseits des Niemandslandes die britische Flagge. In Fünferreihen wurden wir aufgestellt, und dann die letzte Zählung. Als wir in der Mitte des Niemandslandesankamen, rissen sich die ersten Landser die Knöpfe mit den Sowjetsternen von ihren Jacken und Mänteln und warfen sie zurück in sowjetischer Richtung. Dies war der befreiende Abschluss!

Tränen bei der Begrüßungszeremonie

Als wir dann den britischen Schlagbaum passierten, war das Ende der sowjetischen Beeinflussung erreicht. Hier wurden wir vom Roten Kreuz, der Caritas, der Diakonie und auch der Heilsarmee sowie von anderen christlichen Organisationen empfangen. Nach einer kurzen Begrüßungsansprache und einem Dankgebet erscholl das TE DEUM über unsere Ankunftsstelle. Keiner schämte sich der Tränen. Dann gab es ein Begrüßungsfrühstück an Ort und Stelle. Einen Becher Kakao und zwei belegte Brotstullen. Wer nun seinen sowjetischen Becher (Konservendose) oder dergleichen weggeworfen hatte stand nun da. Aber diese Fälle waren schonbekannt und richtige Becher standen bereit.

"Jetzt nur nicht wach werden"

Plötzlich war die Welt ganz anders. Für uns war dieses alles wie ein Wunder. Jetzt nur nicht wach werden und alles ist nur ein Traum, wie schon so oft in den letzten Jahren. Aber wir wurden nicht wach. Per Omnibus ging es nach Friedland zum Auffanglager. Hier war es erschütternd, wie viele Frauen mit den Fotos ihrer Männer oder Söhnen am Rande unseres Weges standen und uns um Auskunft über ihre vermissten Angehörigenansprachen. Im Lager dann die übliche Ungezieferbekämpfung mit Desinfektionspulver. Danach Einweisung in unsere Unterkünfte. Am Abend dann ein großer Dankgottesdienst. Da alle aber doch sehr übermüdet waren, haben einige sogar den Gottesdienstverschlafen, darunter auch ich. Als wir endlich erwachten, ging es erst einmal zur Poststelle, um ein Telegramm nach Hause zuschicken. Immer noch hatten wir Angst, wach zu werden.

Der nächste Tag verlief ruhig und trotzdem aufregend. Alles war für uns so neu, dass wir kaum damit fertig wurden. Plötzlich Aufregung. Alle, die in der britischen Besatzungszone beheimatet sind, sofort fertig machen! Es geht noch heute Nacht ein Transportzugnach Münster in Westfalen, und wir würden noch am 1.Pfingsttag 1948 nach Hause entlassen. Da wir sowieso nichts zupacken hatten, ging alles wieder sehr schnell. Es ging zum Sonderzugnach Münster und bald fuhren wir ab.

Ungewöhnliches Erlebnis am Bahnhof Hamm

Um 8.00 Uhr in der Frühe fuhren wir in den Bahnhof Hamm ein. Als wir hielten, sahen wir auf dem Bahnsteig eine 4 Personengruppe: Vater, Mutter, Sohn und Tochter. Sie hatten eine Gitarre dabei und wollten wohl einen Pfingstausflug machen. Da es ein sehr heißer Tag war, waren sie entsprechend sommerlich gekleidet. Für uns war so etwas ganz was Neues. Wie konnte man nur an einem Ruhetag so etwas unternehmen?! Es war doch viel wichtiger, sich auszuschlafen und zu nähen. Plötzlich fingen sie auch noch an zu singen, mit Gitarrenbegleitung. Im Handumdrehen stiegen die Landser aus und umstanden die Sangesgruppe. Sie sangen aus frohem Herzen Wanderlieder. Unter anderem: "Meister gib mir die Papiere, Meister gib mir meinen Lohn" - wie konnte man nur?. Den größten Eindruck machte aber das Lied von der Köhlerliesel. Als das Lied beendet war, bekamen sie vom Bahnhof und aus dem Zug einen Applaus wie in der Staatsoper. Der Bahnhofslautsprecher musste mehrere Male zum Einsteigen auffordern, denn wir mussten ja noch weiter nach Münster. Dieses Bahnsteigerlebnis hat sich tief in unsere Seelen eingegraben. Stießen hier doch plötzlich zwei Welten aufeinander, wovon die freie Wanderwelt von uns nur schwer zu verstehen war.

In Münster, in einer Kaserne, hielt unser Zug, und wir wurden von englischen Soldaten empfangen. Wieder wurden wir pulverig entlaust. Nach einer ärztlichen Untersuchung - Krankheitsbefund Dystrophie - begannen die Entlassungsformalitäten - Fingerabdruck usw. Nach der Entlassung konnten wir mit demselben Zug, der nach Münster Hauptbahnhof gefahren war, wieder die Kaserne verlassen. In Münster stiegen wir dann in den Interzonenzug nach Frankfurt/Main. In Dortmund stieg ich dann mit zwei anderen Landsern, die auch im Raum Dortmund wohnten, aus. Die Straßenbahn nach Hörde fuhr erst ab Neutor. Da es ein sehr heißer Tag war, war ich in meinem russischen Mantel mächtig mit der Schwitzerei beschäftigt.

Endlich zu Hause

In Hörde musste ich umsteigen, wo mich gleich einer aus Schüren erkannte. Er stieg zwei Haltestellen vorher aus, und die Nachrichtging wie ein Lauffeuer schnell durch die Gemeinde. Als ich die Wohnungstür aufmachte, kam ich gerade zum Kaffeetisch zurecht. Überraschung und Freude waren riesengroß. Zwei Tage nach meinem Telegramm aus Friedland war ich auch schon da. Jetzt gab es erst das große Bad auf der Tenne. Nachdem ich meine eigenen Sachen anhatte, wurde gemeinsam der Pfingstkaffee genossen. Übrigens: Noch monatelang hatte ich Angst, wach zu werden. An den Folgen des Hungerschadens haben die Ärzte noch jahrelang repariert. Bis auf einige Kleinigkeiten haben sie es auch geschafft. Heute noch habe ich manchmal das Gefühl, für Sekundenwieder mittendrin zu stecken.

Empfohlene Zitierweise:
Elfering, Kurt: Heimkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft 1948, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/kurt-elfering-heimkehr-aus-russischer-kriegsgefangenschaft.html
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