Zeitzeugen > Nachkriegsjahre

Margarete Schleede: Typhus

Dieser Eintrag wurde von Margarete Schleede (*1926) 1989 in Hamburg verfasst.

Sommer 1945 in Schlesien

In unserem Dorf wurden immer mehr Menschen krank. Meine Großmutter war bei den ersten Toten dabei. Auch meine 17jährige Schwester Inge wurde krank. Alle bekamen hohes Fieber und magerten ab. Es war schon eine Seuche. Inge klagte nur über Kopfschmerzen und hoffte, in ein paar Tagen wieder auf den Beinen zu sein. Aber es ging ihr schlechter mit jeder Woche. Der Kommandant der polnischen Miliz fragte mich, ob sie nicht bald gesund sei, denn er möchte gern noch eine so gute Arbeitskraft anstellen, wie ich es für ihn bin. Ich sollte Inge sagen, sie könnte sofort anfangen. Immer mehr Leute wurden krank. Wer noch keine Anzeichen hatte, musste sich bei Neugebauer im Gasthaus melden. Da wurden wir alle geimpft. Wir trauten den Polen nicht, aber es konnte sich keiner drücken. Jeder einzelne musste hinkommen. Wer nicht kam, wurde geholt. Nach dieser Spritze wurden einzelne Leute erst richtig krank. Wir hatten Angst, dass man uns ausrotten wollte. Es starben immer mehr an dieser Seuche, auch die geimpft worden waren. Das halbe Dorf war schon erkrankt, und täglich kamen neue dazu. Auch meine Mutter.

Da ich bei der polnischen Polizei arbeiten musste, holte ich Tante Marie in unser Haus. Sie ging dann nicht mehr für die Polen und Russen arbeiten, weil sie für mich zu Hause bleiben musste. Das hatten wir dem neuen Kommandanten zu verdanken. Er wollte mich nicht gehen lassen, obwohl er wusste, wie es bei uns zu Hause aussah. Immer noch hoffte er auf meine Schwester Inge, aber es gab keine Hoffnung mehr. Schwester Emmi, unsere Gemeindeschwester, hatte mich schon vorbereitet. Ich wollte es nicht wahrhaben und betete täglich um das Leben von Inge. Wenn ich am Abend von der Arbeit kam, erzählte ich ihr immer etwas Erfreuliches. Sie freute sich darüber, auch wenn es ihr so schlecht ging. Immer wieder machte ich ihr Mut. Mit den Nachbarn kamen wir kaum noch zusammen, denn jeder versuchte die Häuser zu meiden, wo Kranke waren.

Der Kommandant hatte erfahren, dass auch meine Mutter krank geworden war. Er wollte, dass ich jeden Morgen ein Glas Wodka trank. Ich musste mich bei ihm melden, wenn ich zur Arbeit kam. Ich mochte das Zeug nicht und spuckte es wieder aus. Er redete mir zu, dass es für mich eine gute Medizin sei. Ich konnte nicht mehr richtig arbeiten, mir wurde schwindelig. Am nächsten Morgen rief er mich wieder in das Büro, als ich mich vorbeischummeln wollte. Er war hartnäckig, und ich musste den widerlichen Schnaps trinken. Was mich überraschte, war der Honig im Glas. Das war zu genießen. Weil ich nun täglich um die gleiche Zeit das halb und halb gefüllte Glas trank, ging es mir besser. Frau Radeck fand es sehr fürsorglich vom Kommandanten.

Das traurige Zuhause

In vielen Häusern und Dörfern um uns herum sah es trostlos und sehr traurig aus. Der Typhus verbreitete sich immer mehr. Und für die vielen Toten gab es keine Särge. Sie wurden dann in alte Getreidesäcke eingebunden und auf einem großen Karren zum Friedhof gefahren. Das machten ein paar ältere Männer, die dafür eingeteilt wurden. Es war oft ein trauriger Leichenzug, denn häufig konnte kein Angehöriger mitgehen, weil entweder keiner mehr lebte oder Familienangehörige selbst erkrankt waren.

Bei uns zu Hause kam ich kaum noch zum Schlafen, denn Inge und Mama fantasierten und stöhnten oder schrieen plötzlich auf. Einmal, als ich fest eingeschlafen war, stand Inge mitten in der Nacht an meinem Bett und zerrte an mir herum. Sie redete wirres Zeug. Ich war wie gelähmt vor Schreck. Sie sah aus wie ein Gespenst. Ich wollte mit ihr reden, aber ich konnte kein Wort herausbringen. Wie gern hätte ich verstanden, was sie mir sagen wollte, denn sie war ganz aufgeregt. Als ich mich wieder gefangen hatte in meiner Angst, fiel Inge wie eine Puppe um. Sie wirkte wie tot, aber als ich sie wieder im Bett hatte, stammelte sie weiter unverständliches Zeug. Es war von Mondschein ganz hell im Zimmer, und es war unheimlich in dieser Nacht, denn ich war ganz allein mit den beiden Schwerkranken. Ich betete und heulte vor Angst bis zum Morgen.

Als Tante Marie endlich kam, um am Tag bei meinen Kranken zu bleiben, erzählte ich ihr von der schlaflosen und unheimlichen Nacht. Ich bettelte sie, dass sie auch nachts bei uns bliebe, denn mit Inge sah es sehr schlecht aus. Mama wusste nicht, was um sie herum passierte. Sie lag im hohen Fieber und erkannte uns oft gar nicht. Ich war erleichtert, als Tante Marie versprach, bei uns zu schlafen. Als ich mich verabschiedete, rief Inge nach mir. Ich sollte ein altes Bild von der Wand wegnehmen. Das tat ich dann auch. Tante Marie deutete an, dass wäre ein schlechtes Zeichen. Ich hatte keine ruhige Stunde mehr, weil ich in Gedanken immer nur zu Hause war.

Die Arbeit wurde mir immer schwerer, und manchmal heulte ich plötzlich los. Es war einfach zu viel für mich. Ich musste zu schnell erwachsen werden mit meinen 18 1/2 Jahren. Frau Radeck war mir eine gute Ersatzmutter und tröstete mich oft in meinem Kummer. Ich hatte kaum noch Hunger und keinen Appetit, seit Mama und Inge so krank waren. Alles war wie zugeschnürt. Ich hätte so gerne etwas essbares mit nach Hause mitgenommen, aber das war verboten. Darin waren alle Kommandanten sehr streng. Das war Diebstahl und wurde mit Gefängnis bestraft.

Die Ziege

Wir bekamen eine Ziege für unser Dorf. Das war unser einziges Tier seit Ende des Krieges. Alle drei Tage bekam ich einen Achtelliter Milch für meine Mutter und Inge. Die versuchten wir, ihnen einzuflößen, aber es war nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Die Ziege tat uns manchmal leid, denn aus ihr wurde jeder Tropfen herausgepresst. Für die vielen Kranken hätten wir mehrere Kühe gebraucht, um den Bedarf an Milch zu decken. Das Tier wurde immer bewacht, damit keiner heimlich etwas Milch für sich oder seine Angehörigen stahl. Es starben immer noch täglich alte und junge Menschen. Auch kamen ständig neue Kranke dazu. Der 15jährige Sohn von Frau Elsner sah aus wie ein alter Mann. Sie war auch schlimm dran und freute sich, wenn wir mal ein paar Worte miteinander reden konnten, denn sie war Witwe und musste sich in allem mühsam durchschlagen. Ihre fünf Jungen waren alle im Schulalter und hatten immer Hunger. Von der Ziegenmilch bekam aber nur der kranke Sohn.

Der Abschied von Inge

Schon seit vielen Tagen nahm Inge keinen Anteil mehr an ihrer Umwelt. Sie lebte nur noch halb. Das Röcheln wurde nicht mehr unterbrochen. Es gab keine Hoffnung mehr, es konnte nur noch Stunden dauern, das hatte mir Schwester Emmi gesagt. Schweren Herzens ging ich zur Polizei. Ich hatte keine Ruhe an dem Tag. Immer wieder hörte ich das Stöhnen und Röcheln von Inge. Als ich beim Ausfegen der Schlafräume war, bekam ich einen Schreck. Mir blieb das Blut stehen, so ein Gefühl war das. Ich konnte nicht mehr weiterarbeiten und blieb erstarrt stehen. Mein erster Gedanke war, dass mit Inge was passiert war. Ich versuchte, weiterzuarbeiten, weil ich glaubte, Gespenster zu sehen.

Nach einiger Zeit hörte ich plötzlich meinen Namen rufen. Es war Tante Marie. Hilfeflehend schrie sie immer noch mal, als ich nicht schnell genug ans Fenster kam. "Grete, Grete, komm schnell, Inge ist tot." Ich warf alles hin und rannte, ohne zu fragen, mit Tante Marie nach Haus. Wie von Sinnen heulte ich den ganzen Weg. Meine Nerven gingen mit mir durch. Tante Marie ging es auch nicht besser. Sie hätte auch Hilfe gebraucht, aber niemand konnte uns helfen, wir mussten allein damit fertig werden.

Als wir in der Wohnung ankamen, traute ich mich nicht, reinzugehen. Ich hielt mich wie ein hilfloses Kind an Tante Marie fest. Wir zitterten beide. Inge lag mit offenen Augen und starrte uns an. Es war ein schrecklicher Anblick. Mama lag daneben und redete wirres Zeug. Sie wusste nicht mehr, was Wirklichkeit war. Tante Marie und ich hielten uns aneinander fest und konnten uns nicht beruhigen. Als sie wieder Mut fasste, drückte sie Inge die Augen zu. Dann habe ich Inge noch lange angeschaut. Ich sah, wie aus ihrem Mund das Blut herauslief und wollte davonlaufen, aber Tante Marie schrie: "Lass mich nicht allein hier".

Hilflosigkeit

Wir mussten Inge aus dem Haus bringen, aber erst sollte Schwester Emmi uns sagen, dass Inge wirklich tot war. Ich wollte es ohne Bestätigung immer noch nicht glauben. Sie war tot, kein Zweifel. Die Schwester wollte, dass wir Inge in die Waschküche bringen. Sie war selbst sehr schwach und konnte uns nicht helfen. Sie musste auch gleich wieder los, denn sie wurde überall gebraucht. Wir standen vor der Leiche und waren beide hilflos. Wir wickelten sie dann in das Bettlaken ein und stellten fest, dass bei Inge aus ihrem Darm die Eingeweide heraushingen. Wieder wollte ich weglaufen, weil ich es nicht mehr ertragen konnte. Aber Tante Maries Hilflosigkeit hielt mich davor zurück.

Als wir Inge eingewickelt hatten, mussten wir erst mal aus dem Zimmer gehen, denn wir waren beide so fertig. In der Küche überlegten wir, wer helfen könnte, Inge aus dem Haus zu tragen, denn keiner wollte sich anstecken. Ich fragte meinen Nachbarn, einen alten Mann, der auch schon gebrechlich war. Er half mir dann und murmelte vor sich hin: "Bei mir ist keine Gefahr mehr. Ich bin ja alt. Wenn es mich noch erwischen sollte, dann ist es nicht mehr schade um mich." Ihm ging es aber sehr nahe, dass Inge und so viele andere junge Menschen starben. Mühsam schleppten wir beide Inge aus dem Haus. Er konnte sie nur an den Beinen halten, weil er selbst so schwach war. Wir legten sie auf eine alte Matratze in der Waschküche. Mir war ganz elend dabei, aber ich konnte nicht davor weglaufen, obwohl ich es am liebsten getan hätte. Tante Marie war mir in der Situation auch keine große Hilfe. Sie war froh, wenn ich sie nicht mehr brauchte.

Danach musste ich wieder zurück an die Arbeit, denn ich war ja davongelaufen und musste erst mal Bescheid sagen. Alle waren ganz erschüttert, weil keiner ahnte, dass es Inge so schlecht ging. Nur die beiden Frauen in der Küche wussten Bescheid und Schwester Emmi. Es durfte doch nicht laut werden, wie es in Wirklichkeit bei uns aussah, da ich sonst meine Kranken nicht behalten konnte. Nun war mir nicht mehr ganz wohl, denn dem Bürgermeister gegenüber musste ich mich verantworten. Schwester Emmi war wieder meine Rettung. Sie bog alles so hin, dass er mich in Ruhe ließ. Er war ein gefürchteter Mann im Dorf, weil er sich mit den Ausländern verbündete, um im guten Licht zu stehen. Da er russisch und polnisch sprach, waren wir oft misstrauisch, wenn wir für unser Dorf was brauchten und er nichts erreichte. Ihm ging es nicht schlecht dabei. Wir hofften alle, dass er auch noch seine Strafe bekäme.

Die erste Nacht nach Inges Tod war gruseliger, als alle Nächte davor, denn das Stöhnen verfolgte mich noch immer, und schlafen konnte ich nicht. Mamas Zustand verschlechterte sich. Es war nicht möglich, ihr zu erklären, dass Inge tot war. Jede Nacht betete ich weinend im Bett um Mama, dass sie am Leben bliebe. Schwester Emmi kam nun täglich zu uns und schaute nach dem rechten. Viel Hoffnung gab es auch bei Mama nicht mehr. "Es steht nicht in unserer Macht, wir können nur noch beten", so tröstete sie mich immer.

Die Krise

Mamas Zustand verschlechterte sich täglich. Sie erkannte mich nicht mehr. Als an einem Abend Schwester Emmi bei uns hereinschaute, erkannte sie, wie es um Mama stand. Sie wollte, dass ich in dieser Nacht in die obere Wohnung unseres Hauses ging. Weil ich aber so große Angst hatte, sollte Frau Thäsler bei mir bleiben. Schwester Emmi wollte in dieser Nacht bei Mama Wache halten. Als wir dann in der leeren Wohnung waren und es dunkel wurde, hatte Frau Thäsler ebensolche Angst wie ich. Wir hockten uns auf ein altes Bettgestell, und sie erzählte mir von ihrem Mann, um mich abzulenken. Aber ich konnte ihr nicht richtig zuhören. Meine Gedanken waren immer nur bei Mama. Ich betete, um mich zu beruhigen. Frau Thäsler bemerkte meine Verzweifelung und betete mit mir. Ich heulte, winselte, betete, alles durcheinander. Es waren die schlimmsten Stunden in meinem Leben.

Meine Hilferufe an Gott waren keine Gebete mehr, nur noch ein Flehen und Bitten. Ich kniete vor dem Bettgestell und lag mit dem Oberkörper auf dem Federrahmen. Frau Thäsler versuchte, mich immer wieder zu beruhigen, aber ich bekam einen Weinkrampf. Wochenlang hatte ich keine Nacht mehr richtig geschlafen. Mir ging auch Frau Thäsler auf die Nerven, ich wollte zu Mama. Aber sie ließ mich nicht weg und hielt mich immer wieder fest.

Es wurde draußen schon hell, aber immer noch kein Zeichen von unten. In dieser Nacht war ich nicht mehr ich selbst. Ich konnte nichts mehr am Morgen, weder beten noch heulen. Frau Thäsler hielt mich in ihren Armen, als wir in unsere Wohnung gingen. Wir waren auf alles gefasst, trauten uns nicht zu atmen, als wir die Zimmertür aufmachten. Mama lag ganz leblos im Bett. Ich war schockiert. Schwester Emmi bewegte sich auch nicht mehr. Wir schlichen leise ins Zimmer hinein, dabei wachte sie auf und winkte uns zu, dass wir ins andere Zimmer gehen sollten. Sie kam uns nach und sagte erleichtert: "Es ist geschafft, aber sie war schon mit einem Bein im Grab." Wir umarmten uns vor Freude. Dann brach ich zusammen.

Als ich erwachte, sagte Schwester Emmi: "Nun braucht ihr nur noch Ruhe und gut zu essen, dann wird alles wieder gut für euch beide". Frau Thäsler ging wieder zur Arbeit und entschuldigte mich. Schwester Emmi blieb noch bis zur Mittagszeit bei uns, dann konnte ich endlich zu Mama und sie vorsichtig streicheln. Sie gab aber kein Zeichen von sich. Ich war erleichtert, als ich fühlte, dass sie schlief. Tante Marie kam wieder und übernahm die Tageswache, wenn ich zur Arbeit musste.

Mit Mama ging es wieder aufwärts. Nur war sie bis zum Skelett abgemagert, und die Haare waren ihr ausgefallen. Sie sah aus wie ein Gespenst. Ihre Brust war nur noch ein Hautlappen, und zwischen den Beinen war nur ein dunkles Loch im Unterleib. Ich versuchte, etwas Essen zu organisieren, aber es war schwer. Keiner hatte was, denn überall war es das gleiche: Kranke, die aufgepäppelt werden mussten oder Hungernde, die es noch nicht erwischt hatte. Schrot und rotes Viehsalz aus den Pferdeställen der Russen waren unsere Teigmischung für Pfannkuchen, die auf der Herdplatte gebacken wurden. Manchmal war auch etwas Mehl dabei, wenn mal man Glück hatte. Das aßen wir mit Begeisterung, nur war es immer zu wenig, um satt zu werden.

Auszug aus meinem Buch: Margarete Laufer "Ich mußte früh erwachsen sein". Erschienen 1989 im Jahn & Ernst Verlag. ISBN 3-894 07-012-9

Empfohlene Zitierweise:
Schleede, Margarete: Typhus, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
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