Dieser Beitrag wurde von Maria Winkler aus Dresden verfasst.
Dresden samt Schule zerstört
Unser Abitur war Ostern 1945 fällig. Aber wir konnten es nicht absolvieren, da wir bis zuletzt im Reichsarbeitsdienst (RAD) sein mußten und Dresden samt unserer Schule zerstört war. Wir bekamen zwar ein Zeugnis (ohne vorhergehende Prüfung), aber keiner wußte zu der Zeit, ob es auch für ein Studium seine Gültigkeit gehabt hätte. Im Oktober 1945 fing die Schule wieder an. Für diejenigen, die noch ein ordentliches Abitur ablegen wollten, richtete man einen Abiturkurs ein. Es war die 8. Klasse der Höheren Schule (wie das damals hieß). Für uns hatte man die besten Lehrer unter denen ausgesucht, die nicht in der NSDAP gewesen waren. So genossen wir einen fabelhaften Unterricht, allerdings ohne Schulbücher. Es fehlten bezeichnenderweise auch die Fächer Geographie und Geschichte. Für mich war das die schönste Schulzeit. Man hatte schon einmal ein bißchen ins Leben hineingerochen und erlebte daher den Unterricht ganz anders. Dazu kam noch, daß wir für die Prüfung nur den Stoff eines halben Jahres wissen mußten. Denn dieser Kurs endete Ostern 1946. Bei einem normalen Schulverlauf hätten wir den Stoff der letzten zwei Jahre beherrschen müssen. In diese Zeit fiel der Geburtstag unserer Englischlehrerin. (Damals gab es nur unverheiratete Lehrerinnen ohne Kinder!) Unser Geburtstagsgeschenk für sie (wir waren etwa 20 - 30 Mädchen): Ein großer Karton wurde auf das Lehrerpult gestellt. Inhalt: Etwa 20 Briketts und 10 Stück Feuerholz. Jede, wo man es zu Hause entbehren konnte, hatte ein Brikett mitgebracht, und wem das nicht möglich war, hatte Holz spendiert!!!
Schuljahreswechsel schon zu Weihnachten
Ende März war es dann soweit: Zu Weihnachten war schon Schuljahreswechsel gewesen, um in den richtigen Rhythmus wieder hineinzukommen. Wir waren jetzt die Klasse A. Das Abitur begann mit der Deutsch-Klausur. Ich sehe uns heute noch an unseren Schulbänken stehen - jede an einer Bank für sich. Die Deutschlehrerin und der Rektor standen vor uns und wußten auch nicht recht, wie sie der Bedeutung dieses Ereignisses gerecht werden sollten. Und auf einmal sangen wir den von Mendelssohn-Bartholdy dreistimmig vertonten Psalm 121: "Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt...", einfach auswendig. Wir hatten ihn Wochen zuvor in einem Schulkonzert gesungen. (Mendelssohn-Bartholdy war Jude und demzufolge im Dritten Reich verboten). Ich war überglücklich!
Als es zur mündlichen Prüfung ging, kam ich mir vor, als würde ich zum Schafott geführt. Wir waren nach dem Alphabet in zwei Gruppen eingeteilt. Ich heiße Winkler und gehörte demnach zur zweiten Gruppe. Ich weiß noch, daß ich mich bei einer Klassenkameradin, deren Familienname mit C anfing, nach den Abiturfragen erkundigte. Diese konnten in unserer Gruppe nicht mehr drankommen. Der Schulrat war zugegen. Als die Prüfungsfragen zu Ende waren, sagte er, daß er nun noch einige Fragen zur Politik stellen wolle. Er betonte ausdrücklich, daß die Beteiligung freiwillig sei und keinerlei Einfluß auf die Abiturzensur habe. Das hätte ich mir auch für die spätere Zeit gewünscht. Ich machte von dieser Freiwilligkeit Gebrauch und war stumm.
Abschlussfeier
Und nun zur Abschlussfeier. Es war ein besonderes Ereignis für die ganze Schule. Mir ist vor allen Dingen in Erinnerung geblieben, daß unser Rektor seiner Ansprache einen Bibelvers zugrunde legte. Er sagte ihn in Latein, und ich kann ihn heute noch auswendig: "Qui sequitur me non ambulat in tenebris - Wer mir nachfolgt, wird nicht wandeln in der Finsternis." Es ist ein Wort JESU aus dem Johannesevangelium Kap.8 Vers 12. Es war mir aus dem Herzen gesprochen. Dieser Rektor hat sich leider nicht lange halten können.
Studienplatzfrage
Im Übrigen: Die Lehrstellen- und Studienplatzfrage war damals auch nicht leicht zu lösen. Manch einer fand sich in einer Ausbildung wieder, die er eigentlich gar nicht wollte, aber notgedrungen annehmen mußte. Ich selbst stand nach vier Wochen als Neulehrerin vor einer Schulklasse der Unterstufe - ohne Eignungsprüfung oder dergleichen! Ich war auch als Russisch-Lehrerin angenommen worden, obwohl ich das Lesestück in der ersten russischen Fibel, das mir der Schulrat zeigte, zwar lesen aber nicht übersetzen konnte! Das Gehalt betrug 150. - Mark im Monat. Aber das ist ein neuer Lebensabschnitt.
Empfohlene Zitierweise:
Winkler, Maria: Das erste Abitur nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/maria-winkler.html
Zuletzt besucht am: 05.11.2024