Zeitzeuge > Geteiltes Deutschland: Krisenmanagement

Martina Schoeneich: Ausreise aus der DDR

Dieser Beitrag wurde von Martina Schoeneich (*1953) in Dießen am Ammersee im Januar 2023 verfasst.

Wir feiern dieses Jahr [2023, Anm.d.Rd.] den 34. Jahrestag des Mauerfalls. Für junge Menschen von heute ist die ehemalige DDR ein exotisches Relikt aus einer ihnen unbekannten Zeit. Dass dort Menschen lebten, die nicht die gleichen Rechte und Freiheiten wie sie genießen durften, gerät langsam in Vergessenheit.

Ich bin 1953 geboren und habe als Kind und Jugendliche die DDR erlebt, mit allen Problemen wie Wohnungsnot, keiner Rede- und Pressefreiheit, SED und Staatssicherheit, Mangelversorgung, Planwirtschaft und auch, dass es keine Reisefreiheit gab. Wir waren im sozialistischen Staat eingesperrt.

Flucht oder Ausreiseantrag

1979 haben wir [mein Mann und ich] aus den genannten Gründen einen Ausreiseantrag gestellt. Es gab zwei Möglichkeiten, die DDR zu verlassen – die Flucht oder über einen Ausreiseantrag. Natürlich ist es spektakulärer, von einer Flucht bei Nacht und Nebel zu berichten, aber das Procedere einer „legalen“ Ausreise ist genauso gefährlich und das Ende nicht absehbar. Unserer Ausreise ging eine jahrelange Planung voraus, ein mühsamer Weg, ohne dass wir gewusst haben, ob wir je die DDR verlassen dürfen und wie lange diese Gratwanderung dauern würde.

Gründe für die Ausreise

Das erste Mal, dass wir daran dachten, die DDR zu verlassen war der Zeitpunkt, als mein Mann (1986 verstorben) als Diplom-Gartenbauingenieur gezwungen werden sollte, in die SED einzutreten, um beruflich Karriere zu machen. Er hat es rigoros abgelehnt und stand von da an unter Beobachtung. Die SED hatte die stärksten Mitgliederzahlen. Einerseits waren es überzeugte Sozialisten, aber die Mehrheit waren Mitläufer um der privaten und beruflichen Karriere willen.

Wir waren in der Dresdner Gegend, die man das „Tal der Ahnungslosen“ nannte, abgeschnitten von westlichen Fernsehsendern und waren auf die Informationen des staatlichen Einheitsfernsehens und der staatlichen Presse angewiesen. Es kamen noch viele Punkte dazu, die uns letztendlich zu diesem Schritt veranlasst haben. Um nur einige zu nennen: die sozialistische Erziehung in Schulen und Kindergärten, Nachteile beim Ausüben von kirchlichen Aktivitäten, keine Reisemöglichkeit in Länder unserer Wahl und nicht zuletzt die immer schlechter werdende Versorgungslage. Wir sahen für uns und unsere Kinder keine Zukunftsperspektive.

„…Sie dürfen nie die DDR verlassen“

Am 1.11.1979 stellten wir aus persönlichen und Gewissensgründen einen Ausreiseantrag. Wir haben uns auf die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit von Helsinki berufen und auf die UNO Menschenrechtscharta. Daraufhin wurde mein Mann vom Diplomingenieur zum Gartenarbeiter degradiert. Ich bin mit meiner Kündigung einer Versetzung in das Ersatzteillager zum Schraubenzählen zuvorgekommen, aber ich wurde von meinem Fernstudium kurz vor der Abschlussprüfung exmatrikuliert. Wir bekamen auf unseren Antrag keine Antwort, nur Verhöre im Institut meines Mannes und bei den örtlichen Behörden, die immer wiederkehrende Floskel: Ihr Antrag ist illegal, Sie dürfen nie die DDR verlassen. Weitere Anträge […] folgten, weiteres Mobbing im Institut mit weiteren gehaltlichen Zurückstufungen. Unsere achtjährige Tochter wurde mitten im Schuljahr von ihrem Posten als Gruppenratsvorsitzende entbunden.

Deckname „Borke“

Dann folgte die lückenlose Beobachtung unserer Familie mit dem Decknamen „Borke“. Dies haben wir allerdings nicht gemerkt, erst als wir 1995 die Stasiakte ausgehändigt bekommen haben. Diese Beobachtung wurde [laut] Akte mit acht Offizieren mit wechselnder Garderobe, Brillen, Bart und Fotodokumentation vorgenommen. Es wurden Lagepläne von unserem Haus und Grundstück angefertigt. Aber es gab keine Antwort, auch nach einem Jahr und zwei Monaten noch nicht. Dann kamen Anfang 1981 neue Verhöre und anschließend [die] Wegnahme der Personalausweise.

Weitere Repressalien und Ausreise

Aus gesundheitlichen Gründen und wegen der anhaltenden Repressalien kündigte mein Mann seinen Job. Doch wegen finanzieller Aspekte benötigten wir wieder eine Tätigkeit, doch niemand stellte ausreisewillige Bürger ein. Unser Hilferuf an das evangelische Pfarramt hatte Erfolg und Mitte des Jahres bekamen wir einen Arbeitsvertrag, mein Mann als Friedhofsgärtner und ich als Putzfrau. Dann ging es weiter mit Repressalien, Hausbesuch von zwei Mitarbeitern der Stasi, Zwangsverkauf des Hauses an den Staat, wieder warten und warten. Am 10.11.1981 wurde uns die Staatsbürgerschaft der DDR aberkannt und am 11.11.1981 mussten wir [um] 11.25 Uhr vom Bahnhof Dresden Neustadt abreisen.

Ich habe über diese unsägliche Zeit ein Buch geschrieben mit dem Namen „Deckname Borke“ und viele Seiten in Kopie aus meiner Stasiakte dort veröffentlicht. Als Zeitzeugin bei der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED Diktatur besuche ich Schulen und halte vor Schulklassen Vorträge. Zeitzeugenarbeit ist für mich gelebte Geschichte und es freut mich immer wieder, wenn die Jugendlichen aufmerksam und manchmal atemlos zuhören.

Zur Person

Martina Schoeneich wird 1953 in Dohna, Sachsen geboren. 1971 legt sie an der Erweiterten Oberschule in Zwickau ihr Abitur ab. Anschließend arbeitet sie in der Technologieabteilung des VEB Automot Heidenau und beginnt parallel dazu 1975 ein Ökonomie-Fernstudium an der Fachschule Dresden. Nachdem Sie 1979 gemeinsam mit ihrem Mann einen Ausreiseantrag stellt, verliert sie ihren Studien- und Arbeitsplatz und sieht sich der Überwachung durch die Staatssicherheit ausgesetzt. 1981 wird ihrem Ausreiseantrag stattgegeben und sie siedelt gemeinsam mit ihrem Mann und ihren Kindern in die Bundesrepublik über. 1984 absolviert sie eine Ausbildung zur Bürokauffrau und arbeitet anschließend als Dekorateurin und Personalsachbearbeiterin. Nach einem Psychologie-Studium arbeitet sie von 2007 bis 2013 als Vermittlerin bei der Arbeitsagentur. Zudem ist sie acht Jahre lang als ehrenamtliche Richterin tätig. Heute lebt Martina Schoeneich in Dießen am Ammersee. Neben ihrer Mitgliedschaft in verschiedenen Vereinen, engagiert sie sich als Zeitzeugin bei der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Empfohlene Zitierweise:
Schoeneich, Martina: Ausreise aus der DDR, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/martina-schoeneich- ausreise-aus-der-ddr.html
Zuletzt besucht am: 17.07.2024

lo