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Nadja Schlatzer: Die Aussiedlung meiner Großmutter aus der Tschechoslowakei

Dieser Eintrag stammt von Nadja Schlatzer (*1981) und wurde in Wolfenbüttel verfasst.

Die Aussiedlung meiner Großmutter aus der Tschechoslowakei

oder: "...Sie werden angewiesen, Ihr Haus am 1. Juli zu verlassen..."

Luise Schneider wurde 1925 in Hohendorf in der damaligen Tschechoslowakei geboren. Im Alter von etwa fünf Jahren zog sie zusammen mit ihren Eltern Aloisia und Rudolf Schneider nach Dallwitz in die Nähe von Karlsbad. Ihr Vater praktizierte als Zahnarzt in seiner eigenen Praxis, die sich in ihrem Wohnhaus befand, und ihre Mutter kümmerte sich um Haushalt und Familie. Diese vergrößerte sich, als im Jahre 1930 Rudolf jr. (Rudi) das Licht der Welt erblickte. Zu viert lebten sie nun ein mehr oder weniger ruhiges Leben, bis 1938 das Sudetenland nach dem Münchener Abkommen zum Deutschen Reich kam.

Viel änderte sich auch während der Kriegszeit nicht: Vater Rudolf praktizierte als Zahnarzt (zu seinen Patienten gehörten jetzt natürlich auch deutsche Soldaten, aber auch russische Zwangsarbeiter) und Luise musste zusammen mit ihrem Bruder Rudi zur Hitlerjugend und leistete ihren Arbeitsdienst. Mutter Aloisia brachte 1943 ein drittes Kind auf die Welt - die "kleine" Uta war von nun an neues Familienmitglied im Hause Schneider.

Kriegsende 1945

Gegen Ende des Krieges 1945 kam ein Teil der deutschen Armee nach Karlsbad. Unter ihnen ein Mann namens August Wicherek (Gustel). Da er befürchten musste, von den Russen gefangen genommen zu werden, tauschte er Uniform gegen Zivilkleidung und blieb von nun an illegal im Lande. Eines Tages musste er zum Zahnarzt, und er besuchte die Praxis von Dr. Schneider, die in der gleichen Straße lag, in der er wohnte. Dort lernte er Rudolf und seine Tochter Luise kennen und freundete sich mit ihnen an. Einige Zeit später musste Gustel das Zimmer, in dem er wohnte, räumen und Schneiders boten ihm an, bei ihnen zu wohnen. Nach und nach entwickelte sich zwischen Luise und Gustel mehr als nur Freundschaft und sie planten ihre Hochzeit.

Nach Kriegsende besetzte kurzfristig die russische Armee das Gebiet. Schneiders bekamen, ob sie wollten oder nicht, einen russischen Soldaten in ihr Haus einquartiert. Dieser Offizier (Andreij war sein Name) wohnte zusammen mit seiner Ordonanz über mehrere Wochen bei Familie Schneider. Mit Andreij hatten sie Glück im Unglück, denn dieser mochte seine "Gastgeber", besonders ihre Kinder, sehr gerne. Und auf merkwürdige Weise wurde bei den regelmäßigen Plünderungen der russischen Soldaten das Haus der Schneiders immer verschont ... Zu diesem Zeitpunkt war Gustel schon wieder zurück über die Grenze nach Deutschland gegangen und wohnte von dort an in Marktredwitz, von wo aus er Luise regelmäßig besuchte.

“Nachdem die Russen wieder abgezogen waren“

Nachdem die Russen wieder abgezogen waren, kamen die Tschechen wieder zurück. Diese waren auf alles, was nur annähernd deutsch war, nun gar nicht mehr gut zu sprechen. Und daher wurde die Aussiedlung der Deutschen von den Tschechen befohlen und auch durchgeführt. Schneiders konnten zunächst bleiben ...

So standen nun eines Tages ein tschechischer Doktor und mit ihm zwei Beamte vor der Haustür der Schneiders, um sich Haus und Praxis anzusehen, in die der Doktor Tarrapa einziehen sollte. Schneiders wurde eine Wohnung zugewiesen. Dr. Tarrapa zog in das voll möblierte Haus der Schneiders ein und bot Rudolf später an, wieder in der Praxis zu arbeiten und 50% der Einnahmen behalten zu dürfen. Selbst zum Kaffee trinken lud er Schneiders in "ihr" Haus ein, was für die Kinder nicht so schlimm, jedoch für ihre Eltern um so schlimmer und auch erniedrigender war. Normalerweise wären Schneiders sofort ausgesiedelt worden, aber da der Zahnarzt vonnöten war, durften sie noch bleiben. Auch die 50% Gewinnbeteiligung waren alles andere als üblich, denn Dr. Tarrapa war nicht verpflichtet, Rudolf auch nur an einer einzigen Krone zu beteiligen.

“Glück im Unglück“

Die Familie hatte also schon zum zweiten Mal Glück im Unglück gehabt. Was aber auch nicht lange anhalten sollte, denn eines Tages stand die Polizei vor der Tür und nahm den kleinen Rudi unter Arrest, weil er in der Hitlerjugend Fähnleinführer gewesen war. So kam er nun im Alter von 14 Jahren (!) in ein Lager, um für die Tschechen z.B. im Straßenbau zu arbeiten oder Kriegsschäden zu beseitigen.

Luise war währenddessen schon ausgesiedelt worden, weil sie Gustel heiraten wollte. Anfang Juli wurde sie geholt und nach Maierhöfen in ein Auffanglager gebracht. Dort wurden die Menschen dann ein paar Tage später zusammen mit ihrem "Gepäck" in Viehwagen geladen, die dann versiegelt und über die Grenze nach Deutschland transportiert wurden. (Gepäck ist eigentlich das falsche Wort, da pro Person nur 80 kg mitgenommen werden durften. Man muss dazu sagen, dass die Menschen nicht nur Kleidung, sondern auch andere Habseligkeiten, wie Bettdecken, Geschirr, Töpfe und anderen Hausrat mitnehmen mussten, um später überhaupt noch etwas an eigenem Besitz zu haben. Denn alles (!), was über dem Gewicht von eben 80 kg lag, blieb in der Tschechoslowakei, Häuser und Grundstücke wurden enteignet. Luise wurde in ein Auffanglager nach Lauterbach in Hessen transportiert, in dem sie aber nur ein paar Tage blieb, um dann sofort nach Selb in Bayern zu fahren, wo Gustel mittlerweile wohnte. Dort angekommen mussten sie nach Pfaffenreuth, um verschiedene Formulare und einen Ausweis für Luise zu beantragen, denn ohne diesen wurden z.B. keine Lebensmittel- oder auch Textilkarten ausgegeben. Eigentlich wäre die Neubeschaffung eines Ausweises ein ziemliches Problem gewesen, da Luise keinen alten hatte, der ihre Identität bestätigt hätte. Aber als sie auf der Behörde ankamen und in das zuständige Zimmer traten, war die Beamtin sehr überrascht und begrüßte Gustel herzlich mit der Anmerkung, ihn ja schon so schrecklich lange nicht mehr gesehen zu haben. Gustel unterhielt sich etwas und trug der Dame die eigentlich fast unmögliche Bitte der Neuanschaffung eines Ausweises vor. Die Dame überlegte kurz und meinte: "Weil sie es sind, Herr... mache ich das mal." Damit nicht genug, erwähnte Gustel, dass der Ausweis doch praktischerweise gleich auf den Namen Luise Wicherek ausgestellt werden könne, da beide ja eh vorhätten zu heiraten! Mit denselben Worten wie zuvor stimmte die Dame abermals zu, obwohl dies schon wirklich illegal war, da Gustel und Luise zu diesem Zeitpunkt weder standesamtlich noch kirchlich getraut waren, aber für gute Bekannte drückt man ja schon mal ein Auge zu! Beide verabschiedeten sich bald und verließen die Behördenstelle. Luise fragte Gustel nun erstaunt, woher er die Dame denn kenne. Dieser musste laut lachen und gestand ihr, die Beamtin nie zuvor in seinem Leben jemals gesehen zu heben. Die Frau hatte ihn schlichtweg mit jemand anderem verwechselt. Womit sie mittlerweile zum dritten Mal Glück im Unglück gehabt hatten.

“Zwangsaussiedlung erfolgreich abgeschlossen“

Mittlerweile war Rudi, der mit seiner restlichen Familie ja noch in Dallwitz war, aus dem KZ entlassen worden. So wurden nun auch Aloisia, Rudolf, Rudi jr. und Uta ausgesiedelt, wobei Rudolf in dem letzten Viehtransporter überhaupt, der noch über die Grenze fuhr, untergebracht war. Bei der Anfahrt des Transportes wurde er von einem Fotografen abgelichtet und das Bild wurde in der tschechischen Zeitung veröffentlicht, sozusagen als Beleg dafür, daß die Zwangsaussiedlungen erfolgreich abgeschlossen worden waren.

Die Familie kam nach Eschwege in Hessen. Dort wurde ihnen eine Wohnung zugewiesen und Rudolf konnte später sogar wieder eine Zahnarztpraxis eröffnen, die aber nie wieder so gut besucht war, wie es in Dallwitz der Fall gewesen war. Denn von einem "Flüchtling" wollten sich nur wenige die Zähne richten lassen.

Umzüge

Währenddessen waren Gustel und Luise, die mittlerweile verheiratet waren und 1947 einen Sohn namens Wolfgang bekommen hatten, nach Lebenstedt gezogen, da die Firma, in der Gustel zuvor arbeitete, ihm dort eine bessere Stelle vermittelt hatte. Nach ein paar Monaten zogen sie abermals um. Diesmal nach Braunschweig, da Gustels Arbeitgeber dort für die Arbeiter Wohnungen hatte bauen lassen. In Braunschweig verbrachten sie nun mehrere Jahre bis sie genug Geld hatten, um ein eigenes Haus bauen zu können. Sie kauften ein Grundstück im nahegelegenen Wolfenbüttel und zogen dann zusammen mit Wolfgang und ihrem zweiten Kind, Töchterchen Margot, das 1952 auf die Welt gekommen war, ein letztes Mal um. In Wolfenbüttel verbrachten sie ihr ganzes Leben.

Kinder und Enkel

Gustel verstarb im Alter von 67 Jahren, Luise verkaufte das Haus und zog in eine kleine Wohnung, in der sie jetzt noch lebt. Wolfgang hat geheiratet und zusammen mit seiner Frau Ursula drei Kinder bekommen: Jan, Claudia und Caroline. Er ist mit seiner Familie dann später nach Kanada ausgewandert.

Margot hat ebenfalls geheiratet und wohnt im Haus, das gegenüber dem ehemaligen Haus ihrer Mutter Luise in Wolfenbüttel steht. Dort lebt sie nun mit ihrem Mann Helmut und ihren beiden Töchtern Nina und Nadja, und Letztere ..... das bin ich!

Nadja Schlatzer, Tochter von Margot Wicherek-Schlatzer geb. Wicherek, Enkelin von Luise Wicherek geb. Schneider

Das Bild zeigt Rudolf (meinen Urgroßvater) im letzten Transport der Zwangsaussiedlungen (stehend, mit Hut und Mantel)

Zur Person

Nadja Schlatzer wird 1981 in Wolfenbüttel geboren. Nach dem Abitur wird sie Flugbegleiterin und lebt fünf Jahre lang in Köln, ehe sie nach München zieht. Dort lebt und arbeitet sie heute. Ihre im März 2013 geborene Tochter heißt mit Zweitnamen Luise, wie ihre Großmutter, von der der eingereichte Beitrag handelt. Luise Wicherek, geborene Schneider, wird 1925 in Hohendorf in der damaligen Tschechoslowakei geboren. Sie arbeitet als Zahnarzthelferin in der Praxis ihres Vaters. Sie verliebt sich in den deutschen Soldaten August Wicherek, der in Karlsbad stationiert ist. Nach dem Krieg und ihrer Aussiedlung zieht sie zu ihm nach Selb und sie heiraten. 1947 kommt ihr Sohn Wolfgang auf die Welt, 1952 ihre Tochter Margot. Nach Stationen in Lebenstedt und Braunschweig zieht die Familie schließlich nach Wolfenbüttel. Am 05.05.2014 ist Luise Wicherek in Wolfenbüttel verstorben.

Empfohlene Zitierweise:
Schlatzer, Nadja: Die Aussiedlung meiner Großmutter aus der Tschechoslowakei, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/nadja-schlatzer.html
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