Dieser Beitrag wurde von Norbert Prusko (*1951) 2021 verfasst.
Ankunft in der Bergbausiedlung
Nach über einem Jahr Wartezeit erhielten wir [1958] die glückliche Nachricht über das Angebot einer richtigen Wohnung und zogen aus der Aussiedler-Barackensiedlung an der Trabrennbahn Gelsenkirchen nach Essen-Stoppenberg. Die ganze Familie war glücklich. Eine 60-qm-Wohnung in einer Siedlung der Bergbaugesellschaft Zollverein am Schacht 6. Nach dem Einzug in die Wohnung haben wir auf dem Fensterbrett und an den Fenstern gesehen, dass sich dunkle Flocken dort ablagerten, es rieselte zeitweise Rußflocken von der naheliegenden Kokerei und dem großen Bergwerk Zollverein Schacht 12, wenn der Wind aus dieser Richtung dafür günstig blies.
Für das Reinigen unserer Wäsche und Kleidung, dafür befand sich im Keller die Waschküche. Mit Kohleofen und dem darüber eingebauten Heißwasserkessel für die Kochwäsche, dazu die Wäschespülbecken. Die Bottichwaschmaschine mit Wassermotor mussten wir noch kaufen, denn diese Maschine gehörte unbedingt zum Wäschewaschen und vor allem, damit auch die Arbeitskleidung aus dem Bergwerk sauber wurde. Die Straße der Siedlung sah ziemlich neu aus, aber wie leergefegt und in der Siedlung besaß keiner ein Auto. […]
„Frische, kühle Getränke in aller nächster Nachbarschaft“
[…] Eine engere Freundschaft entstand mit meinem Freund Heinz, den ich regelmäßig besuchte. Er wohnte in dem Haus am einzigen Bogen, den die Straße machte. Sein Vater war Bergmann und die Familie kam aus Großräschen [im] Kreis Cottbus, so sprudelte seine Mutter mir die ganze Bezeichnung ihrer Herkunft herunter. Gerne saß der Vater von Heinz, wenn das Wetter es zuließ, vor der Haustür und dann kamen noch mehrere Nachbarn dazu. Eine Pulle Bier und das Gespräch über die Themen aus der nächsten Umgebung machte ein gemütliches Treffen daraus. Dieser gesellige Ort entwickelte sich zur Anlaufstelle und aus dieser Gewohnheit ein Getränkeverkauf mit Bier, Limonade und Selters. Der kühle Vorrats- und Kohlenkeller wurde dafür hergerichtet und für den Sommer wurde noch ein Blockeisbehälter angeschafft, um das Blockeis, was mit einem speziellen Lieferwagen gebracht wurde, mit den Getränken kühl zu halten. Frische, kühle Getränke in aller nächster Nachbarschaft, von allen Seiten der Siedlung gut zu erreichen. […]
Mehr Einkommen durch Heimarbeit
[…] Im Haus gegenüber, auf der anderen Straßenseite, wohnte mein Freund Frank. […] Franks Oma erzählte mir, dass ihre Familie aus dem Umland von Hannover am Deister kommen würde und dass Franks Vater eine Arbeitsstelle bei der Bergwerksgesellschaft Zollverein bekommen hat. Der Vater von Frank war aber kein Bergmann und ich bekam den Eindruck, dass das Geld, was er verdiente, nicht wirklich reichte. Eine große Familie mit drei Kindern […] und die Oma, alle in der ähnlich gleichen Wohnung, wie wir die Wohnung hatten. Als ich Frank zum ersten Mal zu Hause besuchte, empfand ich einen neuartigen Geruch, der sich in dieser Wohnung befand. Der Geruch war aber sofort erklärt, denn ich konnte sehen, mit welchen Arbeiten die Familie noch beschäftigt war. Es wurden in Heimarbeit Taschen und Beutel für den persönlichen Gebrauch zum Aufbewahren von Zahnbürsten und Zahnpasten, Haarbürsten und Haarkämme, Seifen und Schminkartikel angefertigt. Eine Vielzahl von Kartons und deren Inhalt war zu sehen. Der Geruch kam von den Kunststoffen und dem anderen Nähmaterial, was es zu verarbeiten gab. Regelmäßig wurde die Familie mit neuen Paketen beliefert und die fertig genähten Taschen wurden dann abgeholt. […]
Das erste Auto in der Siedlung
[…] Die Zeit war gekommen und auf unserer Straße, dezent auffällig, war das erste Auto geparkt. Es war ein mausgrauer Lloyd und nicht ein farbiges Automodell, wie wir es von den Autoquartettkartenspielen kannten. Dieses Auto war nicht in dem Quartettspiel vorhanden. Wem dieses Auto wohl gehören könnte, fragten wir unsere Mutter. Sie hatte gehört, das Auto soll einem Postbeamten gehören. Ich nahm das zur Kenntnis, fragte mich aber dann, wer das denn sei und wie ein Postbeamter in die Zechensiedlung der Bergwerksgesellschaft hineingeraten ist. Mir waren sehr viele Bewohner bekannt und gerade [in] der Häuserzeile, auf die ich aus dem Küchenfenster sah, dort sollte der Mann wohnen. […]
Gemeinschaftliche Initiativen in der Siedlung
[…] Die Siedlung entwickelte sich […] durch mehr gemeinschaftliche Initiativen [weiter], wenn diese auch unterschiedlich motiviert waren. Die Sommerferien waren vom Wetter her eine heiße Zeit. Mit dem Fahrrad fuhren wir in kleinen Gruppen zum nächsten Freibad nach Altenessen, ins Kulhofbad. Eine plötzliche Information lief durch unsere Siedlung. Es wurde ein Straßenfest, direkt hinter dem Haus, in dem Heinz wohnte, auf einer großen Wiese veranstaltet. Das kam nicht zufällig aus dieser Ecke, denn da war auch der Getränkeverkauf, betrieben von den Eltern von Heinz und den ich schon beschrieben habe. Die Kinder der Siedlung wurden eingeladen, mit einem Kostümfest sich zu beteiligen und ein Akkordeonspieler mit seinen Helfern begleitete einen bunten Festumzug um die Siedlung herum. Meine Verkleidung war, obwohl ich mir Mühe gegeben habe, kein besonders guter Einfall, denn ich war wohl der bleichste Indianer in der Umzugsgesellschaft. Die Beteiligung der Bewohner in der Siedlung war überraschend groß und über dieses Fest konnte ich noch lange, vor allem […] die Erwachsenen, […] erzählen hören.
Eisblumen an den Fenstern
Die Winter in dieser Zeit waren streng und frostig. Die Kohleöfen, beheizt mit der hochwertigen Anthrazitkohle, die wir als Deputatkohle aus den Bergwerken von Zollverein erhielten, gaben uns eine wohltuende Wärme, obwohl die Häuser, die wir bewohnten eine einfache Bauart hatten. Besonders haben wir gestaunt, welch neue Eisblumengebilde sich über Nacht an den Fensterscheiben entwickelt hatten.
Die kleine Böschung vom Straßenrand in die abgesenkten Rasenflächen genügte, um daraus eine Schlittenabfahrt oder eine schöne lange Schlinderbahn anzulegen. Das war der Anziehungspunkt auf unserer Straße, dabei hatten nur wenig Kinder einen Rodelschlitten. Die Rutschbahn war der große Renner, um die war man besorgt, dass die eisige Fläche immer ihre Rutschqualität behielt. […]
Das Osterfeuer: Ein Ereignis für die ganze Siedlung
[…] In der Woche vor Ostern begangen Leute, die mir unbekannt geblieben sind, allerhand Gehölz und brennbares Material wie auch umher liegende Autoreifen aus der ganzen Umgebung der Siedlung zusammenzutragen und auf der Brachfläche hinter dem Kinderspielplatz aufzuhäufen. Wer da zugange war, konnte ich nicht feststellen und zu sehen, was da vor sich ging, war mir verwehrt, denn es geschah in den Abendstunden, wenn ich zu Hause war. Der aufgehäufte Hügel wuchs jeden Tag mehr und wurde riesig hoch. Es wurde verkündet, das Osterfeuer wird heute Abend angezündet. Das war ein besonderer Abend, an dem unsere Familie dieses Ereignis auch erleben wollte und so gingen wir hin. Es dauerte nicht lange und aus dem aufgebauten Berg entwickelte sich eine riesige Flamme, die in den Himmel loderte und eine noch größere Rauchfahne entwickelte. So etwas gab es hier in diesem Ausmaß noch nie, hörte ich die Leute sagen, die aus allen Winkeln der Siedlung neugierig sich einstellten. Die vielen Gesichter in der absoluten Dunkelheit, angestrahlt von dieser Osterfeuerflamme. So standen viele bedächtig an dem Feuer und lauschten den knisternden Brenngeräuschen. Wir standen am Feuer so nah, wie es möglich war, und konnten uns kaum vorstellen, wie weit dieses Feuer zu sehen ist. Das Osterfeuer brannte die ganze Nacht bis in den nächsten Mittag. Die heiße Asche war eine Gluthöhle und manche Kinder kamen am nächsten Mittag mit dicken Kartoffeln zu dem niedergebrannten Feuer und warfen sie in die noch sehr heiße Glut. Das war der gesteigerte Genuss, diese halbverkohlten durchgegarten Kartoffeln aus der Glut zu fischen und zu essen. Von dem riesigen Osterfeuerberg blieb zuletzt ein kleiner Haufen Asche übrig. […]
Plötzliches Ende der Zeit in der Bergbausiedlung
[…] Auf einmal war diese Zeit in der Siedlung vorbei. Aus gesundheitlichen Gründen musste mein Vater seine Arbeit auf der Zeche als Elektrohauer aufgeben. Erst kam der Wechsel der Arbeitsstelle in ein Stahlwerk und nach einiger Zeit wurde ihm die Zechenwohnung der Zechengesellschaft Zollverein, in der wir wohnten, gekündigt. So mussten wir uns auf einen Umzug an einen noch unbekannten Ort vorbereiten.
Das Sozialamt vermittelte und der Wohnungswechsel ging nach dem angrenzenden Stadtteil Essen-Schonnebeck. Was mir sofort auffiel, war die Aussicht aus dem Fenster der neuen Wohnung. Wir schauten wieder auf einen Zechenturm. Der Förderturm von Zollverein Schacht 4.
Das war eine sozial geförderte Neubauwohnung durch die Stadt Essen. Im genauen Hinsehen, ein Haus, angebaut an einen monströsen Altbau. Dieses Haus hatte einen Hofausgang und dort gelangte man zu dem freistehenden Toilettenhäuschen, das für alle Hausbewohner zu Verfügung stand. Da hatten wir es in dem Neubau angenehmer, denn da war das Badezimmer mit einer Toilette vorhanden. Wir richteten uns ein, mit unseren Möbeln, und mussten nach nicht so langer Zeit feststellen, dass das neu gebaute Wohngebäude, in dem wir jetzt wohnten, sich zu senken begann. Nun waren wir hier neu eingezogen und diese Erkenntnis haben wir erst mal hingenommen. Auf dem Tisch liegende rollbare Gegenstände mussten besonders beachtet werden. Diese rollten sonst in die Senkrichtung des Hauses und fielen auf den Boden und das ging durch den schon bestehenden Abfallwinkel in flotter Abfolge. Der Hauseigentümer sagte nur, dass alles würde im Toleranzbereich liegen. Die Nachbarschaft redete von Bergschäden.
Ein neuer Lebensabschnitt für mich begann nun im Stadtteil Schonnebeck nahe zur Stadtgrenze von Gelsenkirchen aber immerhin noch in Essen. Die nächste Kneipe auf der Straße war das Vereinslokal des Schützenvereins und der Name der Kneipe […] [war] Rheinische Grenze. Auf die Nikolausschule konnte ich weiter gehen, genauer gesagt fahren, denn die Straßenbahn von Gelsenkirchen kommend fuhr direkt an unserem Haus, in dem wir wohnten, vorbei Richtung Essen Stadtmitte zur Nikolausschule. Der Schulleiter der Nikolausschule, ein bis auf sein Innerstes Katholik, mit seiner fanatischen Redekunst, war nun unser Klassenlehrer. Ein gutes Jahr blieb ich an der Schule, um diese dann ordnungsgemäß mit acht Schuljahren abzuschließen. Die Straßenbahn ratterte an unseren Fenstern entlang und wenn ich aus der Haustür kam, konnte ich mit einem kurzen Sprintlauf bis zur Straßenbahnhaltestelle diese Bahn erreichen. […] Der Kontakt zur früheren Siedlung war durch die Fahrt mit der Straßenbahn erhalten, denn die Wochenfahrkarte für die Straßenbahn war bezahlt. Die frühere Wohnumgebung war mir immer einen Besuch wert, dort wo wir gewohnt haben, mit Freunden zusammenzutreffen, um uns mit Neuigkeiten auszutauschen.
Zur Person
Norbert Prusko wird am 15. Juli 1951 im oberschlesischen Mikultschütz (Mikulczyce) im heutigen Polen geboren. Kurz vor seiner Einschulung siedelt seine Familie 1957 nach Möringen bei Stendal in die DDR über. Im Jahr darauf zieht die Familie nach Gelsenkirchen, ehe sie im gleichen Jahr in der Bergbausiedlung am Schacht 6 der Zeche Zollverein in Essen-Stoppenberg sesshaft wird. Von 1958 bis 1966 besucht er die dortige Nikolausschule. Nach dem Abschluss der Volksschule macht er eine Ausbildung zum Nachschneider und ist fast 30 Jahre in der grafischen Industrie tätig. Anschließend macht er sich in diesem Berufsfeld selbstständig und absolviert in diesem Zusammenhang Mitte der 1990er-Jahre verschiedene Weiterbildungen im Multimediabereich. Parallel dazu gestaltet er zwischen 1999 und 2014 sowohl alleine als auch gemeinsam mit anderen Künstlerinnen und Künstlern verschiedene Kunst- und Fotoausstellungen in Münster, Essen und Krefeld. Heute lebt er in Münster. Auf LeMO berichtet Norbert Prusko von seiner Kindheit in der Bergbausiedlung in Essen-Stoppenberg und seiner Schulzeit in den 1950er- und 1960er-Jahren.
Empfohlene Zitierweise:
Prusko, Norbert: Leben in der Zechensiedlung, in: LeMO-zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, [LkStart:http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/norbert-prusko-leben-in-der-zechensiedlung.html]URL:http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/norbert-prusko-leben-in-der-zechensiedlung.html
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