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Otto Neuschulz: Neuanfang und Erinnerung an Carinhall

Dieser Eintrag wurde von Otto Neuschulz (*1925) im Oktober 2005 in Beetzendorf/Altmark verfasst.

Rückkehr aus der Gefangenschaft

Mit der Rückkehr aus der Gefangenschaft war der Krieg für mich beendet. Nun stand ich mit meinen 21 Jahren vor dem Neuanfang. Nur, wie sollte es weitergehen? Der Blick in die Zukunft war wage und schwierig. Nur mit Optimismus und Zuversicht war es möglich, positiv in die Zukunft zu schauen.

Ich hatte während meiner Dienstzeit Tagebuch geführt. Ich hatte nur kurze Notizen gemacht. Aber ich hatte mir die Anschriften meiner engsten Kameraden notiert. Und einige hatte ich ohnehin im Kopf. So nahm ich zunächst mit meinem "Bettnachbarn" aus Carinhall, Heinz Wegner aus Mellenthin auf der Insel Usedom, Kontakt auf. Er kam sofort angereist und besuchte mich damals in meinem Heimatort. Wir tauschten oft und viele Gedanken, manchmal bis tief in die Nacht hinein, aus. Heinz Wegner war während unserer Carinhaller Zeit als Botengänger in die Adjutantur Görungs abkommandiert worden. Hier konnte er Einblicke und Erkenntnisse gewinnen, die er seinerzeit nicht offenbaren durfte. Nun konnte er sie mir erzählen.

Traurige Nachricht

Auch schrieb ich an meinen Kameraden Lothar Reisig aus der Flechtingerstraße in Magdeburg. Von hier erreichte mich jedoch eine traurige Nachricht. Reisig war damals als Angehöriger des Sprengkommandos zurückgeblieben. Nach vollzogener Sprengung des Waldhofes gegen Mittag am 28. April 1945, flüchtete er von dort zu seiner Verlobten Elisabeth Eßling nach Gollin. Auf dem Wege dorthin wurde er von den vorrückenden Truppen der Russen eingeholt und erschossen. Nach Tagen fand man seinen Leichnam im Straßengraben an der ehemaligen Reichsstraße 109 in Richtung Gollin, etwa an der Abfahrt nach Bebersee. Bei ihm war ein Württemberger, der ebenfalls durch Kopfschuss getötet worden war. Beide wurden an Ort und Stelle bestattet. Drei Monate später, Reisigs Tochter Monika war inzwischen geboren worden, beschaffte Elisabeths Mutter einen Sarg und ließ den gefallenen Schwiegersohn exhumieren. Elisabeth erwies dem auf einem Pferdefuhrwerk befindlichen Sarg mit der Tochter im Arm die letzte Ehre, bevor Reisig auf dem Friedhof in Gollin seine letzte Ruhestätte fand. Auch die Eltern des Württembergers holten ihren gefallen Sohn heim.

Sehnsucht nach der Schorfheide

Mit Reisigs Verlobter Elisabeth nahm ich etwas später Verbindung auf. Mir wurde bei dieser Gelegenheit mitgeteilt, dass ihre Tochter Monika inzwischen schon drei Jahre alt sei. Diese Zeit in der Schorfheide ließ sich einfach nicht verdrängen. Sie ließ mich nicht los, und ich versuchte mit allen Mitteln dorthin wieder hinzukommen, um mir meine Wirkungsstätte von einst anzusehen. Auch die Schönheit der Natur mit der die Schorfheide zu jeder Zeit gesegnet war, ist immer im Gedächtnis geblieben. Schon während meiner aktiven Zeit hat mich diese Landschaft gefesselt. Nach 15 Jahren war es soweit. Ich hatte wieder Gelegenheit, dorthin zu fahren. Bei meinem Besuch fand ich ein Trümmerfeld vor. Die Natur hatte sich das Gelände schon teilweise wieder zurückgeholt. Junge Birken- und Kiefersprösslinge waren zu sehen. Von der einstigen Pracht war nichts geblieben, nur ein Trümmer- und Scherbenhaufen wie in fast allen deutschen Städten.

Meine Enttäuschung war damals groß, war ich doch mit anderen Vorstellungen und Erwartungen dorthin zurückgekehrt. Nun war alles anders. Es dauerte lange bis ich mich gefangen hatte und in die Realität zurückkam. Nachdem was geschehen war, konnte es gar nicht anders sein. Damit musste ich nun fertig werden. Ich tröstete und erfreute mich an der doch gebliebenen Schönheit von Landschaft und Natur. Ich erfreute mich der lieblichen Hügel, der wuchtigen Eichen und Buchen, der dunklen Seen und Kiefern und der großflächigen Heidelandschaft mit den Heidelbeersträuchern. Ich erinnerte mich plötzlich des Liedes Märkische Heide: "Märkische Heide, märkischer Sand, sind des Märkers Freude..." Ich summte es vor mich hin und schüttelte damit die Enttäuschung von mir ab. Übrigens sangen wir dieses Lied als Soldaten immer mit großer Begeisterung.

Am Grab meines Kameraden

Nun trieb es mich an die letzte Ruhestätte meines Freundes und Kameraden Lothar Reisig. Ich fand das Grab auf dem Friedhof in Gollin. Ich sah ein gepflegtes Grab mit einem bescheidenen Kreuz aus Holz, darauf eine kleine Metallplatte mit Inschrift. Ich verweilte sehr lange an seinem Grabe, dachte nach und erinnerte mich an unsere gemeinsame Zeit. Die Erinnerung rollte wie ein Film an mir vorüber. Ich ehrte ihn mit einem Blumengebinde, dabei fielen einige Tränen von mir auf seine Grabstätte. Es war damals ein bewegender Augenblick für mich. Hier lag ein junger Mensch, der viele Pläne gehabt hatte, der sein Leben geopfert hatte, hingegeben für Führer, Volk und Vaterland. Er war nun nicht mehr. Ich konnte nicht umhin, dem Herrgott Dank zu sagen. Ihm zu danken für seine Hilfe und seine Güte, aber auch für seinen Schutz, den er mir in den Tagen und Stunden des verheerenden Krieges gewährt hatte.

Kontaktaufnahme zu anderen Kameraden

Anschließend suchte ich die Familie Eßling auf. Die Schwiegermutter Lothar Reisigs empfing mich. Sie schilderte mir nun alle Einzelheiten und gleichzeitig erfuhr ich, dass seine Verlobte inzwischen geheiratet hatte und nun in Altenhof am Werbellinsee lebt. Mit all diesen Erlebnissen und Eindrücken kehrte ich nach Hause zurück. Ich nutzte die weitere Zeit, um auch mit den anderen Kameraden Kontakt aufzunehmen. Ich nahm ein Weihnachtsfest zum Anlass und sandte ihnen Weihnachtsgrüße anlässlich dieser Tage in der Schorfheide. Von allen bekam ich Rückantwort. Zwei Kameraden waren bereits verstorben. Mit Hans Niehoff aus Wolfenbüttel in West-Deutschland und Eduard Kastner aus Wartmannstetten in Österreich korrespondierte ich regelmäßig. Sie besuchten mich auch. Ich selbst war ja Bürger der DDR und konnte nicht zu ihnen reisen, obwohl mir entsprechende Einladungen vorlagen. Hans Niehoff ist inzwischen verstorben. Mit meinem ehemaligen Stubenkameraden Kameraden Heinz Wegner pflegte ich eine enge Freundschaft. Wir besuchten uns häufig gegenseitig. So blieb die Schorfheide mit Carinhall immer in uns lebendig, denn bei all den Begegnungen wurden immer wieder alte Erlebnisse aufgefrischt und erörtert und neue Erkenntnisse gewonnen.

Empfohlene Zitierweise:
Neuschulz, Otto: Neuanfang und Erinnerung an Carinhall, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/otto-neuschulz-neuanfang-und-erinnerung-an-carinhall.html
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