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Sarah Probst: Gespräch mit einer Zeitzeugin

Dieser Eintrag stammt von Sarah Probst (*1983) aus Wolfenbüttel. Ihre Gesprächspartnerin schildert ihre Eindrücke und Empfindungen vom Mauerfall.

Meine Interviewpartnerin ist eine Justizangestellte aus Wolfenbüttel, Jahrgang 1957. Ich interviewte sie zum Fall der Mauer und sie erzählte mir Folgendes:

Öffnung des Grenzübergang Mattierzoll

"Ich saß an einem Sonntagmorgen beim Frühstück und verfolgte die aktuellen Ereignisse der Grenzöffnungen, als ich auf einmal hörte, daß der Grenzübergang Mattierzoll an diesem Morgen geöffnet werden sollte. Im ersten Augenblick, dachte ich, meinen Ohren nicht trauen zu dürfen, denn es erschien mir als so unrealistisch. Jahrelang ging ich mit meinem Mann und meinen beiden Töchtern an der Grenze spazieren und auf einmal sollte bis hin zu dem Wachturm, der einem sonst dieses Gefühl, überwacht zu werden, gab, gehen dürfen. Es klang noch alles sehr unwahr. Wie viele andere Menschen aus der Umgebung machte ich mich mit meiner Familie und meinem Bruder auf den Weg. Bis nach Mattierzoll konnten wir gar nicht durchdringen, einige Straßen waren schon gesperrt und so mussten wir zu Fuß weitergehen.

"Gefühle schwer zu beschreiben"

Die Gefühle, die ich damals hatte, sind schwer zu beschreiben. Natürlich war ich neugierig auf das, was hinter der Grenze ist, und wie viele andere Menschen nahm ich eine Art Euphorie in mir wahr. Dort, wo man vorher automatisch ruhig und leise war, lachten an diesem Tag die Menschen, die Trabbis stauten sich, und man merkte gar nicht, daß man mittlerweile gut 5 km weit gegangen war. In Hessen, der nächsten Ortschaft hinter dem Grenzzaun, haben wir Pause gemacht und uns mit Bekannten unterhalten. Ich staunte, wie kaputt und zerfallen die Häuser und Straßen waren.

Aufregende Zeit

Die ersten Wochen und auch Monate waren aufregend. Durch einen Luftballonweitflug beim Schulfest meiner Tochter lernten wir ein älteres Ehepaar aus Weferlingen bei Grasleben kennen. Es fanden einige Treffen statt, doch der Kontakt brach nach gut einem halben Jahr ab. Das Dorf, in dem sie lebten, war komplett sanierungsbedürftig. Man glaubte wirklich in einer anderen Welt zu sein, obwohl man noch nicht mal 100 km von zu Hause entfernt war. Das war auch der Grund, weshalb ich mir persönlich immer den Mauerfall gewünscht hatte. Mir schien es so suspekt, dass es zwei deutsche Staaten gab. Willy Brandts Ausspruch zum Ereignis des Mauerfalls "Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört..." brachte meine Meinung auf den Punkt.

Heutige Bewertung

Auch heute bewerte ich dieses historische Ereignis als positiv. Die Entwicklung bis heute war nicht immer ganz so, wie man es sich gewünscht hätte, wie zum Beispiel unnütz ausgegebene Gelder beim Aufbau Ost. Betrachtet man aber alles in allem, bin ich der Meinung, dass man zufrieden sein kann. Doch trotzdem gibt es nach wie vor noch eine geistige "Mauer". Noch heute spricht man von den "Ossis" und "Wessis", wenn auch nicht mehr ganz so viele Vorurteile herrschen wie vor 8-10 Jahren. Trotzdem erwische ich mich selbst manchmal dabei, wenn ich sage "Typisch Ossis"; und sei es nur, wenn man auf der B 79 in Richtung Halberstadt, nur von Autos mit den Kennzeichen HBS (für Halberstadt) in gefährlichen Manövern überholt wird.

Hätte ich den Mauerfall vermutet?

Auf die Frage, ob ich es 1989 vermutet hatte, dass es einmal eine Grenzöffnung geben würde, antwortete ich mit "Ja" - so komisch es auch klingt.

Doch Anfang des Jahres 1989 hatte man angefangen, die Straße zwischen Roklum und Mattierzoll auszubauen. Man machte damals schon Scherze, dass demnächst der Grenzübergang öffnen wird, obwohl dieses noch lange indiskutabel blieb. Natürlich stand dieser Ausbau der Straße und die letztendliche Grenzöffnung in keinem Zusammenhang, aber es blieb so eine Art Vorahnung oder Hoffen.

Empfohlene Zitierweise:
Probst, Sarah: Gespräch mit einer Zeitzeugin, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/sarah-probst-gespraech-mit-einer-zeitzeugin.html
Zuletzt besucht am: 16.07.2024

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