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Sigrid Otto: Überquerung der sowjetischen Zonengrenze 1945

Dieser Beitrag wurde von Sigrid Otto (1925-2014) im Jahr 2013 verfasst.

In der sowjetischen Besatzungszone galt es, das Problem des breiten Grenzstreifens zu überwinden, denn nur mit Erlaubnisscheinen konnte man in das Zonenrandgebiet gelangen, und diese erhielten wir nicht. Trotzdem machten wir uns auf und zwar an meinem Geburtstag am 9.10.45, der im Zug mit Glückwünschen gefeiert wurde. Wir waren alle mit wenig Gepäck unterwegs, im Rucksack steckte nur das Nötigste für den täglichen Bedarf, Reiseproviant, Essgeschirr und Besteck waren das Wichtigste. Den Notgroschen trug ich im Brustbeutel und ein Netz mit einem Vierpfundbrot in der Hand. Problemlos war die Fahrt über Magdeburg bis Haldensleben. Dort wählten wir Walbeck als nächstes Ziel, es war ein Bahnhof im Zonenrandgebiet, dicht an der Grenze. Doch diese Fahrt wurde durch einen plötzlichen Ruck und Halt des Zuges unterbrochen. Der Ruf des Schaffners "Mongolen kommen" ließ uns blitzartig ohne Gepäck aus dem Zug springen und zwar auf der Seite, wo dichtes Gebüsch und Wald ein Versteck anboten. Wir hörten laute Rufe und Geschrei, dann lange Zeit Stille, bis unsere Lokomotive pfiff und wir uns herauswagten. Der Schaffner empfing uns, wir stiegen ein, der Zug aber fuhr rückwärts bis Haldensleben, ohne dass wir einen Grund dafür erfuhren. Eberhard fand bald heraus, dass ein anderer Zug Richtung Eilsleben eingesetzt wurde, das war eine der letzten Stationen vor dem Zonenrandgebiet, wo wir auch ankamen. - Wie aber nun weiter? Natürlich nur zu Fuß in der Dunkelheit, wir drei waren gar nicht allein. In dieser Gegend gab es eine Möglichkeit in den Westen zu kommen. Das "Sonnen-Brikett-Werk" war durch die Zonengrenze geteilt worden. Im Westen wurde die Braunkohle abgebaut, mit Loren in die Sowjetzone gebracht zur Weiterverarbeitung und die leeren Loren gingen zurück. Wahrscheinlich gelang der Menschenschmuggel nur durch Bestechung mit Geld für die Sowjetkontrolle am Grenzübergang. Wo dieses Werk genau lag, habe ich nie herausbekommen.

Geduldig warteten wir den ganzen Tag bis zu den späten Abendstunden und die Menschenmassen wurden immer größer. Als endlich die leeren Loren auf unserem Werksbahngleis anrollten, bezahlten wir unseren Obulus, 120 RM blieben mir im Gedächtnis. Mit Hilfe einer Leiter durften wir aufsteigen und uns hinabgleiten lassen in den dunklen Raum der Lore. Manche fielen übereinander, doch zum Schluss fand jeder ein Plätzchen. Den Kleinkindern hatte man den Mund verbunden, uns war eingeschärft worden, dass während des zweimaligen Haltens kein Laut hinausdringen dürfe. Alles ging gut - selbst beim dritten Halt war’s mucksmäuschenstill, bis sich unter uns der Boden bewegte, wir wie Braunkohle hinab auf den Erdboden rutschten und unter dem Loren hervorkrochen. Schwarz wie die Nacht aber glücklich waren wir. Helle Lampen zeigten uns den Weg zur Unterkunft, die Duschen der Bergleute durften wir benutzen, unsere Kleidung ausbürsten und der Raum mit Pritschen empfing uns zur Nachtruhe. Uns wurde klar, dass jede Nacht dasselbe Spiel lief.

Zur Person

Sigrid Otto wird 1925 in Mittelsachsen geboren. Ab Januar 1946 absolviert sie an der Oberschule in Rochlitz eine achtmonatige Ausbildung für Neulehrer. Parallel dazu holt sie ihr Abitur nach. Anschließend unterrichtet sie an der Zentralschule in Lunzenau. Da sie sich in der DDR politischen Repressionen ausgesetzt sieht, flieht sie 1952 über West-Berlin in die Bundesrepublik. Auch dort ist sie weiterhin als Lehrerin tätig. Von 1975 bis zu ihrem Eintritt in den Ruhestand ist sie stellvertretende Schulleiterin an der Gerhart-Hauptmann-Realschule in Leonberg. Dort lebt sie bis zu ihrem Tod im Januar 2014. In LeMO erzählt sie von ihrem Berufsweg in der DDR und ihrer Flucht in die Bundesrepublik.

Empfohlene Zitierweise:
Otto, Sigrid: Überquerung der sowjetischen Zonengrenze 1945, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/sigrid-otto-ueberquerung-der-sowjetischen-zonengrenze-1945.html
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