Dieser Beitrag wurde von Silvia Koerner (*1938) im Jahr 2000 in Schweden verfasst.
Der "hübsche Andy"
Eines der älteren Mädchen von Frau F. hatte einen amerikanischen Besatzungssoldaten als Freund. Für uns jüngeren Mädchen in der Umgebung war er der schönste und hübscheste, den wir uns vorstellen konnten! Er sah so schneidig aus in seiner enganliegenden Uniform! Außerdem brachte er immer Kaugummi und Schokolade mit, die er großzügig unter uns Kindern verteilte, wenn er mit seinem Jeep vor der Haustür von Frau F. parkte. Dann war es als wäre der Weihnachtsmann gekommen. Wir liefen rasch zum Jeep in der Hoffnung auf einen Kaugummi oder zumindest, um einen Blick auf den "hübschen Andy" zu werfen.
Mit den Amerikanern hielten u.a. auch die Nylonstrümpfe ihren Einzug in Deutschland. Sie waren das, was sich deutsche Frauen wünschten und begehrten. Aber auch die Lebenslänge der Nylonstrümpfe war begrenzt. Früher oder später hatten sie eine oder mehrere Laufmaschen und, diese ließen eine völlig neue Berufsgruppe entstehen, nämlich die der "Laufmaschenaufnehmer". Von morgens bis abends saßen Frauen mit dieser Tätigkeit in Schaufenstern und nahmen Laufmaschen auf! Die Bezahlung war schlecht und erfolgte je aufgefangene Laufmasche. Lohnend war es lediglich für die Besitzerin der betreffenden Nylonstrümpfe, denn für sie war es billiger und leichter Laufmaschen aufnehmen zu lassen, als ein Paar neue Nylonstrümpfe zu erstehen!
Care-Pakete
Mit den "Care-Paketen" zeigte die amerikanische Bevölkerung ihre Solidarität mit jenen Deutschen, die es nach dem Krieg besonders schwer hatten. So kam es, daß wir ab und zu eine Mitteilung zur Abholung eines "Care-Paketes" erhielten. Diese Pakete konnten Kleidung oder Lebensmittel enthalten. Uns spielte es keine Rolle, was in den Paketen war, denn Kleidung war ebenso willkommen und notwendig wie Lebensmittel! Ein Lebensmittelpaket enthielt meistens verschiedene Konservendosen mit Trockenmilch, gekochten und geschälten Kartoffeln, Gemüse und "Corned beef". Wenn wir mit einem solchen Paket unter dem Arm nach Hause gingen, dann sahen wir nicht nur glücklich aus, wir waren es auch!
So kam es auch, daß Mutti einmal eine Dose Trockenmilch in einem Schrank im Korridor versteckt und eingeschlossen hatte. Den Schlüssel zu diesem Schrank gab sie Oma, bevor sie sich selbst auf eine ihrer unzähligen "Hamstertouren" begab, um Lebensmittel zu besorgen. Es war nicht oft, daß Oma auf uns aufpaßte, denn sie wohnte im russisch besetzten Teil in Glienicke, während wir im amerikanisch besetzten Teil Tempelhof wohnten. Das bedeutete jedesmal lange und umständliche Fahrten mit der S-Bahn und auch diverse Kontrollen, ganz abgesehen, daß sie dann noch uns vier Enkelkinder hatte, die ihr das Leben auch nicht gerade erleichterten.
Lebensmittel verschwinden
Bei einer solchen Gelegenheit, als Oma auf uns aufpaßte, geschah es, daß Mutti früher als berechnet von ihrer Hamsterfahrt zurückkam. Sie schloß die Wohnungstür auf und begrüßte Oma, die sich gerade im Korridor aufhielt. Oma wollte die Begrüßung erwidern, doch das klappte nicht so recht. Denn anstelle von Worten, spritzte Mutti eine große weiße Wolke Trockenmilch entgegen! Das Rätsel war gelöst; der Hunger machte, wie es schien, auch vor Omas nicht Halt und, Mutti wußte nun, daß es nicht unbedingt ihre Kinder sein mußten, die für das Verschwinden von Lebensmitteln, die unter Verschluß standen, verantwortlich waren.
Empfohlene Zitierweise:
Koerner, Silvia: Amis, Nylons, "Care-Pakete", in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/silvia-koerner-amis-nylons-care-pakete.html
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