Dieser Beitrag wurde von Silvia Koerner (*1938) aus Schweden im Jahr 2000 verfasst.
... dein Vater ist im Krieg. Deine Mutter ist im Krankenhaus ...
Im Frühjahr 1945 wußten wir zwar, daß unser Vater im Krieg war, wir wußten aber nicht wo und ob er noch lebte. Da wußten wir schon mehr über unsere Mutter. Sie hatte Typhus bekommen und lag im Krankenhaus in Prenzlau. Das bedeutete für uns Geschwister (Dieter, 10, Silvia, 7, Edith und Jutta, 6), daß wir allein zurechtkommen mußten, weil sich niemand der Erwachsenen in dem Dorf, in das wir evakuiert worden waren, um uns kümmerte! Die wenigen, die noch im Dorf lebten und nicht geflohen waren, hatten genug mit sich selbst zu tun. Für uns alle, Erwachsene wie Kinder, galt nur eins: sich Essen zu beschaffen, um zu überleben! Das war das Wichtigste. Weniger wichtig dahingegen waren Dinge wie sich zu waschen, die Haare zu kämmen, die Zähne zu putzen, die Kleidung zu wechseln usw. Das alles war von untergeordneter Bedeutung. Hauptsache, wir bekamen etwas in unsere Bäuche!
Obwohl wir einen Großteil des Tages damit beschäftigt waren, Essen zu beschaffen, so vergaßen wir niemals unsere Mutti im Krankenhaus. Dieter besuchte sie täglich, und er hatte auch immer etwas zu essen für sie mit dabei. Uns drei Mädchen nahm er einmal in der Woche mit. Dann spielte sich immer das gleiche Ritual ab. Bevor wir Mutti besuchen durften, mußten wir in die Desinfektionsabteilung. Dort mußten wir uns unsere Kleidung ausziehen. Während diese desinfiziert wurde, wurden wir geduscht und geschrubbt. Nach dem Duschen ging es den Läusen in unseren Haaren zu Leibe. Nackt und mit geschlossenen Augen mußten wir uns aufstellen und wurden mit DDT besprüht, das unsere Köpfe umnebelte. Erst nachdem diese Prozedur durchgeführt war, durften wir unsere desinfizierten Kleider anziehen und Mutti besuchen.
Da wir uns keine Gedanken darüber machten, ob wir sauber waren oder nicht, war es ja ein Glück, daß das Krankenhauspersonal für unsere Hygiene sorgte. So wurden wir wenigstens einmal wöchentlich gereinigt! Und Mutti sah immer nur frisch geduschte und saubere Kinder, so daß sie annehmen mußte, wir würden immer so aussehen. Allerdings erwies sich der Einsatz von DDT als Vernichtungsmittel gegen unsere Kopfläuse als sinnlos. Die Läuse kümmerte es nämlich sehr wenig, daß sie besprüht wurden. Woche für Woche wuchsen sie, legten ihre Nissen und vermehrten sich!
Die Suche nach Essen
Wie schon erwähnt, waren wir vollauf beschäftigt mit dem Beschaffen von Essen. Dieter und ich strichen tagsüber umher in den zerschossenen, vandalisierten und verlassenen Häusern des Dorfes und nahmen alles mit, was die Russen nicht gefunden hatten. In erster Linie suchten wir nach Essen. Fanden wir aber irgend einen Gegenstand oder ein Spielzeug, auch wenn es kaputt war, so nahmen wir dies auch mit. Man konnte es ja vielleicht reparieren und gegen Essen tauschen!
Fanden wir nichts in den Häusern, begaben wir uns ins Freie und suchten dort. Im Frühling begann ja alles Mögliche zu blühen und aus dem Erdboden zu ragen, worauf wir kauen konnten, auch wenn es nicht gerade schmeckte oder gar satt machte. So kauten wir Sauerampfer und saugten den Nektar aus Forsythie- und Fliederblumen und aßen andere Pflanzen, von denen wir wußten, daß sie eßbar waren. Wir entdeckten auch ein Spargelbeet, das keinem zu gehören schien, rupften die Spargelstangen aus und kauten auf diesen geschmacklosen Gewächsen herum. Auch Stoppelfelder hatten noch das eine oder andere vorhandene Getreidekorn anzubieten, oder die Kartoffeläcker, auf denen sich immer noch die eine oder andere Kartoffel in der Erde verborgen hielt.
"Nächtliche Ausflüge"
Es kam aber auch vor, daß Dieter und ich "nächtliche Ausflüge" machten, um etwas zu finden, das unseren Hunger stillen konnte. Wir wußten, daß es gefährlich war, falls wir erwischt werden würden. Aber unserer Meinung nach war es kein Diebstahl. Wir wollten nur etwas zu essen haben, egal wie! So waren es in der Nacht oder früh am Morgen hauptsächlich die Hühnerställe des Dorfes, die von uns heimgesucht wurden. Entweder ging alles gut und die Hühner verhielten sich ruhig, wenn wir ihnen die Eier wegnahmen, oder aber es ging laut zu und die Hühner gackerten und flogen wild umher, so daß ihr Besitzer aufwachte und herauskam, um nachzusehen, was da wohl in seinem Hühnerstall im Gange war. Aber wir waren rasch und mit der Zeit hatten wir auch eine gewisse Geschicklichkeit entwickelt. So kamen wir stets mit einigen Eiern nach Hause und machmal sogar mit einem ganzen Huhn, dem Dieter bereits im Hühnerstall den Hals umgedreht hatte. Das Huhn hatte nichts mehr zu gackern und konnte uns somit auch nicht verraten!
Einmal lag auch ein totes Pferd auf der Dorfstraße. Wie es dahin gekommen war, weiß ich nicht. Aber wir sahen, daß sich einige Leute Fleisch herausschnitten und da taten wir es ihnen nach.
Meistens war es auch Dieter, der die verschiedenen Lebensmittel zubereitete. Doch weder er noch wir Mädchen konnten kochen. Deshalb bot sich oft die einfachste Methode an, nämlich, daß wir vieles roh aßen. Aber eine der von Dieter zubereiteten Mahlzeiten ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Im Tauschgeschäft gegen unsere Kindermöbel (ein Tisch und vier Stühle) hatte er eine große Schüssel Schmalz erstanden. Wir hatten aber nur eine Handvoll Kartoffeln. Diese brutzelte er in dem Schmalz. Hungrig wie wir waren, verputzten wir alles, was also mehr Schmalz als Kartoffeln war. Diese "Mahlzeit" im Jahre 1945 ist einer der Gründe, warum es ungefähr 50 Jahre gedauert hat, ehe ich mich überwinden konnte, in heißem Fett zubereitete Pommes frites zu bestellen und zu essen.
"Rate, wessen Füße das sind"
Trotz aller Anstrengungen um das tägliche Brot konnte es dennoch vorkommen, daß uns ab und zu ein wenig Zeit blieb, wo wir nichts anderes waren und sein wollten als Kinder. Zu unseren gewöhnlichen Spielen kamen noch einige neue hinzu. Ein solches neues Spiel hieß "Rate, wessen Füße das sind" und stand mit der grassierenden Krankheit Typhus im Zusammenhang. Diese Krankheit forderte viele Todesopfer, die immer öfter auf Leiterwagen durch das Dorf zum Friedhof transportiert wurden. Die Leichen waren in der Regel nur dürftig mit zu kurzen Decken bedeckt, so daß die Füße herausragten. Wir versuchten dann herauszubekommen, wessen Füße das wohl waren.
Mutti hat die Krankheit überlebt. Wie und warum habe ich, wie vieles andere aus dieser Zeit, erst später durch Gespräche mit ihr erfahren. Ich war hauptsächlich an zwei Fragen interessiert und fragte deshalb: "Wie lange mußtest du im Krankenhaus liegen, d.h. wie lange mußten wir uns selbst behelfen?" und "wie kam es, daß du die Krankheit überlebt hast, wo doch so viele andere daran starben?" Ich bekam folgende Antwort auf meine erste Frage: "Von meinem Krankenbett aus konnte ich einen Kastanienbaum sehen. Als ich in das Krankenhaus kam, blühte der Baum. Als ich das Krankenhaus verließ, waren die Kastanien reif und fielen herab." Meine zweite Frage beantwortete Mutti so: "Ich konnte sehen, wie die Leute in ihren Betten um mich herum starben. Alles war sehr knapp und von einer Pflege der Kranken konnte kaum die Rede sein. So war man auch gezwungen, sich der Toten so schnell wie möglich und ohne großen Aufwand zu erledigen. Dies geschah am einfachsten und schnellsten, indem die Fenster geöffnet und die Leichen in das Massengrab geworfen wurden, das um das Krankenhaus gegraben worden war. Ich hatte nicht genug Kraft, daran zu denken, daß ich ja euretwegen gesund werden mußte. Was meine Gedanken beschäftigte und meinen Lebenswillen mobilisierte, war, daß ich nicht in diesem Massengrab landen wollte!"
"Nun waren wir allesamt kahlköpfig"
Bevor es im Herbst 1945 dann endlich so weit war, daß wir das Dorf verlassen und wieder nach Berlin zurückkehren konnten, hatte Mutti eine großartige Idee, wie wir ein für alle Mal unsere Kopfläuse loswerden konnten. Sie fand einen Bauern, der noch immer ein Rasiermesser und eine Rasierklinge besaß. Dieser Mann rasierte unsere Köpfe. Nun waren wir allesamt kahlköpfig: Mutti waren die Haare wegen Typhus ausgegangen und wir hatten unsere wegen der Läuse lassen müssen.
In einem Kinderwagen verstauten wir einen Teil der Sachen, die wir noch besaßen und mit nach Berlin nehmen wollten. Ich selbst besaß nicht einmal mehr ein Kleid oder einen Rock, weshalb ich Dieters Seppelhosen tragen mußte. Ich schämte mich sehr. Nicht nur, daß ich als Mädchen Hosen anhatte, auf meinem Kopf war auch kein einziges Haar zu sehen!
Herbst 1945: Von Prenzlau zurück nach Berlin
Die vier Geschwister in Berlin Auf dem Bahnhof in Prenzlau, von wo aus wir mit dem Zug zurück nach Berlin wollen, war ein Gewimmel von rufenden, winkenden, weinenden, schreienden, suchenden Menschen, mit oder ohne Kinder, mit großen Bündeln, Gepäckstücken und Koffern. Als der Zug einlief, drängelten alle. Ich bekam Angst, daß ich hinfallen und getreten werden könnte, daß ich unter den Zug fallen könnte oder daß ich von Mutti und den Geschwistern getrennt werden würde! Ich weinte und rief verzweifelt nach Mutti, die gerade im Begriff war, in den Zug zu steigen, während ich eingeklemmt in der Menschenmasse auf dem Bahnsteig stand. Mitten in diesem Gedränge, das jene Angst in mir ausgelöst hatte, hob mich plötzlich jemand hoch und in eines der Zugfenster und jemand anderes innen im Zug nahm mich entgegen! Und dort sah ich zu meiner unbeschreiblichen Freude und Erleichterung auch Mutti und meine Geschwister wieder. Ich war unerhört erleichtert, daß wir alle zusammen und wohlbehalten im Zug und auf dem Weg nach Hause waren!
Nach einer Fahrt in einem überfüllten Zug, bei der die Passagiere auch auf den Dächern saßen und sich an den Treppenstufen festklammerten, erreichten wir allmählich den Bahnhof "Anhalter Bahnhof" im Stadtteil Kreuzberg in Berlin, oder besser gesagt das, was noch davon übrig war nach allen Bombardierungen: einige Schienen, die Außenwände und das Portal. Aber wir widmeten der Zerstörung nicht allzu viel Aufmerksamkeit, denn wir waren müde und hatten noch einen langen Weg zu Fuß vor uns bis zu unserer Wohnung im Stadtteil Tempelhof.
Mutti war noch immer ziemlich schwach und kraftlos, weshalb sie Dieter beauftragt hatte, den hochrädrigen Kinderwagen zu schieben. Doch das fiel ihm nicht leicht, denn erstens galt es, alle Bürgersteige zu überwinden und zweitens ging die Belle Alliance Strasse, der heutige Mehringdamm, mehrere Kilometer nur bergan. Dieter strengte sich sehr an, um die hohen Räder des Kinderwagens über die Bürgersteige zu bekommen. So sehr er sich aber anstrengte, so passierte es dennoch immer wieder, daß der Wagen umkippte und sein Inhalt ausgebreitet auf der Strasse lag. Dann waren die Zwillinge und ich gefragt. Wir sammelten die Sachen ein und legten sie zurück in den Kinderwagen. Beim nächsten Bürgersteig wiederholte sich alles. Nachdem wir diesen anstrengenden Teil des Weges hinter uns gelegt hatten, näherten wir uns allmählich der uns wohlbekannten Gegend mit Planschbecken, Pärkchen, St. Joseph Krankenhaus und zuletzt auch der Straße und Haus Nummer 9 mit unserer Wohnung im Parterre.
Endlich daheim…
Endlich daheim - und scheinbar doch nicht! Als Mutti die Tür aufschließen wollte, wurde sie nämlich von innen geöffnet und ein älterer Mann und eine ältere Frau standen vor uns. Die beiden schauten uns ebenso verwundert an, wie wir sie! Was für eine Überraschung, die aber ihre Erklärung fand. So erzählte uns der ältere Mann, daß das Haus, in dem er und seine Frau zuvor gewohnt hatten, bei einem Bombenanfall total zerstört und in einen Trümmerhaufen verwandelt worden war. "Totalausgebombten" wie ihnen wurde in der Regel eine freie Wohnung zugewiesen. Unsere Wohnung war zu diesem Zeitpunkt frei und keiner wußte, wann oder ob wir überhaupt zurückkommen würden, weshalb also das ältere Paar einziehen durfte.
Es dauerte ungefähr eine Woche, bis sie etwas Neues gefunden hatten und aus unserer Wohnung auszogen. Während dieser Zeit schliefen wir bei verschiedenen Nachbarn. Ich war bei den Nachbarn über uns einquartiert und mein Schlafplatz bestand aus zwei zusammengeschobenen Stühlen, Kissen und Wolldecke.
Als wir endlich wieder für uns allein in unseren eigenen vier Wänden waren, trat eine unerwartete Veränderung mit Dieter ein. Was Mutti auch zu ihm sagte oder wie wir drei Schwestern auch versuchten, ihn aufzumuntern, saß er zusammengesunken auf einem Stuhl in der Küche und blickte starr vor sich hin. Er war an nichts interessiert und aß auch kaum etwas. Es half auch nichts, daß Mutti ihn hinausschickte zu seinen Freunden. Draußen ließ er sich auf dem Bürgersteig nieder und blieb dort stundenlang sitzen, bis er wieder herein gerufen wurde. Erst ein Arztbesuch erklärte sein merkwürdiges Verhalten. Er war an Anämie erkrankt, was bedeutete, daß er an Eisenmangel litt und zu wenig rote Blutkörperchen hatte. Das hatte ihn apathisch und kraftlos gemacht. Sein junger Körper hatte allzu lange allzu große Anstrengungen durchgemacht und gleichzeitig hatte er zu wenig zu essen und zu wenig Vitamine bekommen! Dieter und Mutti waren beide unterernährt und krank. Aber sie waren keineswegs Ausnahmen. Im Jahr 1945 und in den Jahren danach waren die meisten Menschen in Deutschland unterernährt und litten an allen möglichen Mangelkrankheiten!
Empfohlene Zitierweise:
Koerner, Silvia: Maikäfer flieg, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/silvia-koerner-maikaefer-flieg.html
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