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Silvia Koerner: Nach dem Kriege in Berlin

Dieser Beitrag wurde von Silvia Koerner (*1938) in Schweden im Jahr 2000 verfasst.

Kindercliquen

Nach allem, was wir Kinder bisher mit den Erwachsenen erlebt hatten, war es nur natürlich, daß wir Cliquen bildeten. In diesen Cliquen hielten wir zusammen, waren für einander da und hatten eine Gemeinschaft, in der wir uns geborgen fühlten. Die Clique, der ich angehörte, bestand aus vier Mädchen (Hanne, Tanja, Gisela und Silvia) und vier Jungen (Gerhard, Bruno, Herbert und Karl-Heinz) verschiedenen Alters. Jeder in der Clique wußte, was er von den anderen in der Clique erwarten durfte und dementsprechend waren auch die verschiedenen Aufgaben innerhalb der Gruppe genauestens verteilt.

Gegenüber den Häusern der Wuesthoff-, der Wintgens- und der Gontermann-Straße lag ein ausgedehnter Obst- und Gemüsegarten, der zum St. Joseph Krankenhaus gehörte. Diesen Garten betrachteten wir - mit Ausnahme des Winters - als "unsere eigene kleine Speisekammer". Von dort her "beschafften" wir uns Obst und Gemüse. Der Garten war von einem zwei Meter hohen Drahtzaun umgeben und wurde von einem Wächter mit Schäferhund bewacht. Er diente auch den im Krankenhaus arbeitenden Nonnen zur Entspannung. In ihren Pausen wandelten sie auf den langen Gängen zwischen den verschiedenen Beeten und lasen, tief versunken und ohne jemals den Blick zu heben, in ihren Bibeln.

Aufgabenverteilung innerhalb der Clique

Wenn wir hungrig und uns einig waren, dem Krankenhausgarten einen kurzen Besuch abzustatten, wurden die verschiedenen Aufgabenbereiche für einen solchen Besuch verteilt, so daß jeder in der Clique wußte, was er zu tun hatte, um zu einem erfolgreichen und gut schmeckenden "Obstkompott" beizutragen. Danach ging es ans Werk. Der Gartenzaun war für Hanne, Tanja und Gerhard, die geschmeidig und schnell wie Katzen waren, kein Hindernis. Wir anderen blieben außerhalb des Zaunes und hielten Wache; Bruno hielt Ausschau nach dem Wächter und dem Hund, ich bewachte einen langen Gang und einige Nebengänge und rief laut: "Nonne kommt", falls eine bibellesende Nonne in einen der von mir zu bewachenden Gänge einbog. Gisela bewachte einen anderen Bereich, und Herbert und Karl-Heinz beobachteten die Strasse in der einen und der anderen Richtung.

Indessen saßen Hanne, Tanja und Gerhard, die über den Zaun geklettert waren, bereits in den Kirschbäumen und pflückten eifrig Kirschen. Hanne und Tanja verstauten die Kirschen in ihren weißen Blusen, Gerhard in seinen Hosentaschen. Mit ausgebeulten und rot gefärbten Blusen und Hosentaschen kletterten sie wieder über den Zaun und gemeinsam rannten wir alle in Richtung Kasernenhof, wo wir im Keller einer Ruine die Beute gerecht untereinander aufteilten und mit dem größten Appetit aufaßen.

Die Berliner sind ja dafür bekannt, daß sie gern aus ihren Fenstern gucken, wobei sie halbwegs mit dem Oberkörper heraushängen; sie tun dies außerdem ziemlich lange, um nicht zu sagen stundenlang, und am liebsten zu zweit, um in aller Ruhe sehen und diskutieren zu können, was sich da so alles auf ihrer Strasse abspielt. Bei dieser Beschäftigung machen sie es sich richtig bequem mit dicken Kissen, auf denen sie ihre Oberkörper schön weich lagern. So beobachteten sie scharfäugig auch alles, was wir Kinder taten. Später dann konnten sie unseren Müttern, wenn diese nach Hause kamen, berichten, was für unerzogene Kinder wir waren und daß sie doch tatsächlich gesehen hätten, was wir so angestellt haben, während unsere Mütter abwesend waren!

Muttis Ohrfeigen

Wenn Mutti auf diesem Weg erfahren hatte, daß ich in irgendetwas verwickelt war, dann war es am besten, wenn ich nicht als erste nach Hause kam und den Klingelknopf drückte. Denn Mutti reagierte sich gern an demjenigen ab, der zuerst kam, und bei solchen Gelegenheiten wurde ich unweigerlich mit Ohrfeigen in Empfang genommen. Wenn sie sich dann nach einer Weile etwas beruhigt hatte und ich sie fragte, wofür ich denn die Ohrfeigen bekommen hatte, dann stellte sich oftmals heraus, daß die Nachbarn gepetzt und mich mit meinen Zwillingsschwestern oder mit irgend einem anderen Mädchen verwechselt hatten. Kam ich zu spät, war dies natürlich auch nicht gut, und ich konnte mir aus diesem Grunde Ohrfeigen einhandeln. Allmählich lernte ich daher, daß es am sichersten war, nach den Zwillingen und vor Dieter nach Hause zu kommen. Ich hatte auch gelernt, sofort nachdem ich auf den Klingelknopf gedrückt hatte, eine bestimmte Körperhaltung einzunehmen, d.h. ich trat einen Schritt zurück und hielt die Arme schützend über meinen Kopf. Derart gewappnet konnte mich Mutti nicht so leicht an meinem Haarschopf in die Wohnung ziehen, und ihre Schläge trafen nicht meinen Kopf, sondern wurden von meinen Armen abgefangen.

Hier seien jedoch einige Worte der Entschuldigung für meine Mutter gesagt, warum sie so viel Ohrfeigen verteilte. Sie mußte Mutter und Vater in einer Person sein; sie mußte uns Kinder irgendwie satt kriegen, was meistens bedeutete, daß sie uns längere Zeit ohne Aufsicht lassen mußte, um z.B. in überfüllten Zügen aufs Land zu fahren und essen zu besorgen. Wenn sie dann fix und fertig nach Hause kam und außerdem von den Nachbarn noch zu hören bekam, daß sie unerzogene und freche Kinder hatte, dann saß ihre Hand uns gegenüber recht locker. Unseren Müttern blieb wenig Zeit für Zärtlichkeiten. Ihre Liebe zu ihren Kindern beschränkte sich hauptsächlich auf die Beschaffung von Lebensmitteln, damit ihre Kinder überleben konnten. Am schlimmsten waren eigentlich jene Nachbarn, die ebenso diebisch waren wie wir, nur daß diese halt ihre Besuche im Krankenhausgarten nachts durchführten, um im Dunkeln und ohne Zeugen ihre Beute nach Hause zu schaffen, so wie es beispielsweise mit dem Porree geschah. Zu unserer großen Freude hatte eine Nachbarin - wie sich am nächsten Morgen zeigte - im Dunkel und in der Eile den einen und anderen Porreestängel verloren, diese lagen verstreut auf der Strasse, im Hausflur und vor ihrer Wohnungstür! Gegen Mittag verbreitete sich dann im ganzen Haus auch noch der Geruch von gekochtem Porree. Trotz oder gerade wegen dieser Beweise, erklärte nun diese Nachbarin, ob die anderen es hören wollten oder nicht, daß es ihr am Tag zuvor gelungen war, Porree zu erstehen. Sie erzählte dies laut ihrer schwerhörigen Schwiegermutter, die auf dem Balkon saß. Auf ihren Balkons saßen auch die meisten anderen Nachbarn, die aber nicht schwerhörig waren!

Der kalte Winter 1946/1947

Der Winter 1946/1947 war besonders streng und kalt. Unsere Wohnung hatte zwei Kachelöfen, einen im Schlafzimmer und einen im Wohnzimmer. In der Küche hatten wir einen Gasherd und einen kleinen Holzfeuerherd. Strom gab es nur für die Beleuchtung. Zugang zu Warmwasser hatten wir nur, wenn wir es auf dem Gasherd erwärmt hatten. Als es nichts mehr gab, womit man die Wohnung hätte erwärmen können, schlichen wir, wie alle anderen Leute des Nachts umher, um Brennmaterial zu sammeln. So kam es auch, daß der Holzzaun, der den Eisenbahndamm von S-Bahnhof Pape-Strasse bis S-Bahnhof York-Strasse umgab, über Nacht verschwunden war. Ähnlich erging es Parkanlagen; dort, wo an einem Tag noch Bäume und Büsche wuchsen, war am nächsten Tag eine baum- und buschlose Gegend geworden. Um die Kälte zu ertragen, sah sich die Berliner Bevölkerung zu diesen drastischen Maßnahmen gezwungen. Ein jeder dachte nur: "Wenn ich diese Holzlatte oder diesen Baumstamm nicht mitnehme, dann tut es ganz bestimmt der Nachbar."

Stromsperren kamen auch recht oft vor. Diese unregelmäßigen Unterbrechungen in der Stromversorgung der Haushalte sorgten dafür, daß wir dann und wann im Dunkeln saßen; unsere einzige Licht- und Wärmequelle bestand bei diesen Gelegenheiten nur aus einer Wachskerze. Um die Wärme zu halten und die Wachskerze zu sparen, legten wir uns, zu welcher Tageszeit auch immer, ins Bett, krochen allesamt unter eine Daunendecke und drückten unsere Körper dicht aneinander. Dann gelang es mir auch Kälte, Dunkelheit und Hunger zu vergessen, denn nun hatte Mutti (falls sie mal ausnahmsweise bei uns war), wenn zwar auch durch die Umstände gezwungen, Zeit für uns, war bei uns und erzählte uns wunderbare Erlebnisse aus ihrer Kindheit.

Brennmaterialbesorgung im Sommer

Zu anderen Jahreszeiten galten andere Bedingungen für die Beschaffung von Brennmaterial. Im Sommer kam einmal pro Woche ein alter Mann auf einem Pferdefuhrwerk. Schon einige Häuserblöcke entfernt konnte man seine Bimmel hören, und je näher er kam, hörten wir auch seinen langgezogenen Ruf: "Brennholz für Kartoffelschaaaln". Dann griff ich mir den Eimer mit Kartoffelschalen. Diese tauschte ich mit dem alten Mann gegen ein kleines Bündel Brennholz zum Feuer anmachen. So war jeder von uns zufrieden; der alte Mann, daß er Kartoffelschalen zum Füttern seiner mageren Pferde bekommen hatte und ich, daß ich ein paar dünne Holzstäbchen für den Kachelofen in der Hand hielt. Aber es gab da noch etwas; nach diesem Tauschgeschäft rannte ich wie verrückt wieder in die Wohnung und erschien kurz darauf mit Kehrbürste und Müllschaufel in der Hand auf der Straße. Ich wollte doch die erste sein, falls das Pferd den Schwanz heben und ein paar Pferdeäpfel fallen lassen sollte. Denn wenn es mir gelang, unter all den anderen Kindern die erste zu sein, und das Pferd das tat, worauf ich wartete, schaufelte ich das Ergebnis zusammen und brachte es nach Hause. Dort durfte es einige Zeit auf dem Balkon trocknen, um zu einem späteren Zeitpunkt im Kachelofen verfeuert zu werden.

Im Herbst fuhren Mutti und wir vier Geschwister mit der S-Bahn in Richtung Grünau, wo es Tannenwälder gab. Dort sammelten wir Tannenzapfen. Wenn unsere Säcke und Rucksäcke gefüllt waren, fuhren wir wieder zurück. Eine Rückfahrt ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Die S-Bahn war so voll, daß ich beim Aussteigen einen meiner Schuhe verlor. Da hatten wir einerseits zwar alle Mengen Tannenzapfen, andererseits brauchte ich aber ein Paar neue Schuhe! Doch weder Pferdeäpfel noch Tannenzapfen verbreiteten wirklich Wärme, sie prasselten nur schön laut im Kachelofen und gaben höchstens ein Gefühl von Wärme.

Hungrig in der Schule

Die Schultage der ersten und zweiten Klasse wurden immer mit Religionsunterricht eingeleitet. Mit knurrendem Magen saß ich andächtig in meiner Bank und lauschte den phantastischen Erzählungen von Fräulein H., wie Jesus Tausende von Menschen mit nur einigen Fischen oder einem einzigen Brot speiste. In der dritten Klasse waren aber ich und einige meiner Klassenkameraden der Meinung, daß die Wirklichkeit in einem anderen Verhältnis zu den Erzählungen von Frl. H. stand. Da half es auch nichts, daß sie die Unterrichtsstunden mit dem Schimmer von Kerzenlicht verschönern wollte. Die Wachskerzen auf unseren Bänken dienten in unseren Augen nur dazu, kleine Wachskugeln aus ihnen zu formen, die wir kreuz und quer durchs Klassenzimmer schossen, sobald Frl. H. uns den Rücken zuwandte oder etwas aus der Bibel vorlas.

Gut in Erinnerung geblieben ist mir auch eine Klassenlehrerin meiner Zwillingsschwestern. Wie viele andere waren wir nach dem Krieg arm und gezwungen, von Sozialhilfe zu leben und bekamen deshalb in der Schule gratis Essen, Bleistifte und Schreibhefte zugeteilt. Eines Tages kamen Edith und Jutta, die in die gleiche Klasse gingen, nach Hause und berichteten unter Tränen über ihre Erlebnisse in der Schule. Ihre Klassenlehrerin hatte sie beide vor die schwarze Tafel beordert, wo sie sich hinstellen und schämen mußten. Ihre Lehrerin berichtete dem Rest der Klasse, daß die Schule ihr Essen, ihre Schreibhefte und Bleistifte bezahlt, obwohl ihre Mutter scheinbar Geld genug besitzt für ihr eigenes Vergnügen. Am Abend zuvor hatte diese Lehrerin unsere Mutti in einer Kinovorstellung gesehen. Die Behauptung, die diese Lehrerin aufgestellt hatte, und besonders die Art und Weise, wie sie die Zwillinge vor der ganzen Klasse gedemütigt hatte, veranlaßte Mutti bereits am nächsten Tag zu einem Besuch bei ihr. Mutti gab der Lehrerin und der Klasse ihre Version. Sie gab zu, daß sie im Kino gewesen war. Sie erzählte aber auch, daß sie die Eintrittskarte geschenkt bekommen hatte! Bevor sie das Klassenzimmer verließ, bat sie die Lehrerin, sich in Zukunft zu bemühen, erst den Sachverhalt gewisser Dinge zu erkundigen, bevor sie falsche Behauptungen aufstellt und Schüler öffentlich anklagt. Dies war, soweit es mir in Erinnerung ist, das einzige Mal, wo Mutti schnell und freiwillig die Schule besuchte.

"Blaue Briefe"

Wenn unser Benehmen oder unser Interesse an der Schularbeit nicht mit der Auffassung der Lehrer übereinstimmte, kam in der Regel ein "blauer Brief". Ein solcher Brief bedeutete nie etwas Gutes. Das war sowohl Schülern wie Eltern bekannt. In derartigen Briefen wurde Mutti meistens zu einem Elternabend in der Schule aufgefordert, wo sie sich anhören mußte, wie schlecht, faul oder vorlaut ihre Kinder waren; und war es nicht Dieter, so war es Silvia, und war es nicht Silvia, so war es Jutta oder Edith, oder aber wir waren es alle vier! Das war einfach zu viel für sie, und sie tat, was die meisten Mütter damals taten, d.h. sie zeigte sich in der Schule nur, wenn es wirklich unumgänglich war!

Dann gab es auch noch jene Lehrer, die gern Gefälligkeiten von Eltern ihrer Schüler annahmen und sich dafür erkenntlich erwiesen. Zu denen gehörte meine Mathematiklehrerin. Rita, meine beste Freundin, ging mit mir in die gleiche Klasse und innerhalb eines Halbjahres verbesserte sie auffallend ihre Kenntnisse in Mathematik; jedenfalls stand es so in ihrem Zeugnis. Bei den Prüfungen hatte ich aber keine Verbesserung feststellen können, weil Rita nämlich neben mir saß und mich dauernd flüsternd nach dem Ergebnis der verschiedenen zu lösenden Aufgaben befragte. Eines Tages auf dem Nachhauseweg von der Schule fragte ich sie, wie es gekommen war, daß sie eine so gute Zensur in Mathematik erhalten hatte. Sie antwortete: "Du weißt doch, mein Vater schlachtet immer mal ein Kaninchen, mal hier und mal dort. Er hat auch das Kaninchen von Frau G. geschlachtet; dafür hat sie ihm versprochen, mir bessere Noten in Mathematik zu geben." Ritas Vater war einer der ersten, die aus der Gefangenschaft entlassen worden waren. So kam es, daß er einer der wenigen Männer war, die damals jene "blutige Arbeiten" verrichteten und den Kaninchen das Fell über die Ohren zogen, wenn jemand zu Ostern einen Kaninchenbraten auf dem Tisch haben wollte.

Kaninchenschlachten

Nach dem Krieg war es üblich, Kaninchen in Ställen auf dem Balkon zu halten. So besaßen auch wir welche. Ich hatte mein eigenes, für das ich täglich frischen Löwenzahn holte, der reichlich zwischen den Ruinen auf dem Kasernenhof wuchs. Was mir anfangs jedoch nicht klar war, war die Tatsache, daß die Kaninchen nur gehalten wurden, um später als Braten auf dem Tisch zu landen. So war ich sehr traurig an jenem Tage kurz vor Ostern, als ich nach Hause kam und Ritas Vater auch mein Kaninchen geschlachtet hatte. Ohne Kopf und ohne Haut hing es an einem Fleischerhaken an der Speisekammertür. Zu Ostern lag es dann als bräunlich glänzender Braten auf einem Teller auf dem Tisch und sollte verspeist werden. Ich war hungrig, aber ich konnte mich beherrschen! Mein eigenes Kaninchen aufessen, das konnte ich einfach nicht! Den Osterhasen hatte ich mir bis dahin immer als einen fröhlich dreinschauenden Hasen vorgestellt, der auf seinem Rücken einen Korb trug, in dem viele bunte Eiern lagen.

Empfohlene Zitierweise:
Koerner, Silvia: Nach dem Kriege in Berlin, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/silvia-koerner-nach-dem-kriege-in-berlin.html
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