Zeitzeugen > Nachkriegsjahre

Werner Brähler: Kulturelles Leben im Lager

Dieser Eintrag wurde von Werner Brähler (*1925) im März 2010 verfasst.

Wir wurden plötzlich - ohne Vorankündigung - aus dem großen Hauptlager von Kohtla-Järve in ein kleines Nebenlager, "Neue Stadt", transportiert, nachdem man uns mitgeteilt hatte, dass wir nicht bis zum 31. Dezember 1948 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen würden. […] Damit wohl in dem großen Hauptlager in Kohtla-Järve keine Unruhe aufkam, so nahmen wir an, hatte man uns Offiziere schnell in ein kleineres Lager verlegt. […] Das Lager "Neue Stadt" hatte bei unserer Ankunft ca. 450 Kriegsgefangene. Wieder wurden wir Offiziere in einer Baracke untergebracht, was den Vorteil hatte, dass wir uns seit Jahren gut kannten, und unter uns kein Denunziant war, der zur ANTIFA oder zum russischen NKWD-Politoffizier ging, um über unsere Unterhaltungen und politischen Meinungen zu berichten. Ein weiterer Vorteil bestand auch darin, dass unsere Baracke nicht verwanzt war. Zu unserem Glück war die deutsche Lagerführung uns sofort sehr zugetan. Der Lagerführer war ein ehem. Berufssoldat aus Hamm/Westfalen, ein sympathischer, aufgeschlossener, freundlicher Mensch. […]In kultureller Hinsicht war hier im Lager keine besonders herausragende Aktivität. Wir machten daher der deutschen Lagerführung und den ANTIFA-Leuten den Vorschlag, eine Kulturgruppe zu gründen, d.h. eine Lagerkapelle, eine Theatergruppe und einen Chor. […] Wir sollten anfangen! So lautete einstimmig die Devise der Lagerleitung und der ANTIFA. […] Die Lagerkapelle probte jetzt täglich, jeden Abend war eine Chorprobe für den 16-Mann-Chor. Attraktive Volkslieder im Zusammenwirken mit den Solisten wurden eingeübt. Sologesänge mit Chor und Orchester aus Opern, Operetten mit szenischen Darbietungen in Kostümen, eine Tanzgruppe, die von einem Amateur-Choreographen einstudiert wurde. Konrad Weitzel komponierte Tanzlieder, dafür mussten sogar Holzschuhe angefertigt werden. Die Schreiner, die Schneiderwerkstatt, die Schumacher und Friseure waren sehr engagiert, teils sogar begeistert, endlich einmal gefordert zu sein, eigene Initiativen zu zeigen und dafür auch noch Anerkennung zu finden. In Werner Fritsch, einem Schlesier aus Laubahn, ehemaliger Panzer-Leutnant, hatten wir einen Conferencier, der keine Plattitüden oder gar Zoten verwendete. Seine Ansagen - oft in Reimen - formulierte er mit Esprit. Ich selber war Chorsänger, überwiegend Solist im Wechselgesang mit dem Chor und mit Orchesterbegleitung, spielte aber auch Frauenrollen und sang mit Heinz Feuerhahn aus Bad Salzdetfurth, Buffo - und Soubretten - Partien aus Operetten und Singspielen. […] Unsere Resonanz im ganzen Lager war groß, auch bei den russischen Offizieren, die, wie überall in den Lagern, die ersten 3-5 Besucherreihen in der Theaterbaracke belegten. Durch unsere erfolgreichen Bühnenauftritte standen die Solisten natürlich mehr im Mittelpunkt des Lagerinteresses als andere. Überall war man uns behilflich. So bekam ich von der Lagerschneiderei eine neue Tuchhose und ein neues Jackett. Wer nicht in russischer Gefangenschaft war, kann den Wert dieser Dinge kaum ermessen!

Empfohlene Zitierweise:
Brähler, Werner: Kulturelles Leben im Lager, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/werner-braehler-kulturelles-leben-im-lager.html
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