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Willi Witte: Flucht und Gefangenschaft

Dieser Beitrag wurde von Willi Witte (*1928) aus Westerland/Sylt im Jahr 2001 verfasst.

Flucht aus dem Lager

Im Lager kam die Parole auf, dass das Lager geschlossen den Russen übergeben werden sollte. Da habe ich meine Siebensachen unter den Arm genommen und bin aus dem noch schwach bewachten Lager rausgeschlichen. Dabei lernte ich einen Niederländer und einen Hamburger kennen, die dieselbe Absicht hatten. Wir sind nachher nur nachts marschiert. Abends versuchten wir, etwas zu Essen bei den Bauern zu ergattern. Das klappte auch meistens ganz gut.

Ich hatte zu allem Überfluss auch noch so eine Art Ruhr. Wenn die beiden Landser nicht gewesen wären, wäre ich wohl elendig umgekommen. Auch die Angst, in den Wäldern von freigelassenen KZ Häftlingen erwischt zu werden, war gross. Weshalb und warum, begriff ich erst später.

Uns dreien ging das zu Fuss gehen mittlerweile zu langsam. Da sahen wir vom Berg aus vor einem Bauernhof einige Pferde weiden. Wir haben uns nicht lange besonnen und uns drei Pferde von der Weide geklaut. Es waren zwei russische Panjepferde und ein deutsches Reitpferd. Gott sei Dank hatten alle drei Pferde Mundstücke und Zügel, aber keine Sättel. Ich hatte noch nie auf einem Pferd gesessen. Die beiden anderen Landser hatten da schoneinige Erfahrung. Der Niederländer und ich nahmen uns die beiden Panjepferde. Das Schlimmste war, wenn der Niederländer mal mit seinem Pferd ein Trab vorlegte, dann wollte mein Pferd gleich immer hinterher.

Weiter auf gestohlenen Pferden

Die beiden Panjepferde sind wohl längere Zeit ein Gespann gewesen. Es dauerte so seine Zeit, bis wir beide uns einig wurden. Wir ritten meistens am Tag oberhalb der Verkehrswege. Denn der Amerikaner war schon oft unten auf den Strassen zu sehen. Wir wollten weiter nach Westen. Zusammen sind wir ca. 200 km geritten. Abends machten wir meistens für die Nacht bei Bauern Rast. Die Gegend war voll von Flüchtlingen, die meistens bei den Bauern unterkamen. Mein Hintern war so wund geritten, dass ich noch knapp laufen konnte. Aber meine beiden Kameraden hatten mich immer rührend versorgt. Im Stall hiess es immer: ?Hosen runter!? Ein Eimer Wasser hinten drauf und ein paar Händevoll Mehl (selten knappes Puder) hinterher. Mittlerweile hatten wir uns Wolldecken als Reitsättel zurecht gemacht. Zusammengebundene Lederriemen dienten als Steigbügel. Das war schon mal eine grosse Erleichterung. Es rutschte natürlich ein bisschen hin und her.

Meine beiden Freunde waren in der Nacht meistens bei irgendwelchen Frauen. Ich musste immer schön brav in der Scheune schlafen, bis die beiden wiederkamen. Am frühen Morgen ging es wieder in die Berge. Ich hatte immer noch meinen Durchfall und musste oft Halt machen. Meine beiden Freunde haben immer gewartet. Alleine hätten sie es wohl auch leichter gehabt. Einmal haben wir einen ganzen Tag Pause gemacht, denn unsere treuen Pferde brauchten auch mal eine längere Pause. Meine Freunde hatten mich bei einer jungen Frau untergebracht. Diese wollte gerne, wenn ich wollte, dass ich bei ihr bliebe, bis sich alles normalisiert hätte. Aber abends ging sie zu irgendeinem Amerikaner, die in der Nähe stationiert waren. Da ging ich doch lieber mit meinen Freunden weiter. Die beiden hatten das Bleiben bei dieser Frau eingefädelt.

"Räuberzivil"

Auf unserem Ritt trafen wir auch viele andere Landser, die sich wie wir schon Räuberzivil besorgt hatten. Da gab es Typen mit grossem Einfallsreichtum, um sicher weiter nach Westen zukommen. Bei einer Rast auf einem Bauernhof lernten wir so einen kennen. Der hatte sich irgendwie einen Leiterwagen beschafft. Das Pferd dazu hat er wohl auch nicht geschenkt bekommen. Aber so konnte er ganz frech die Strassen benutzen. Die Amis, die vorbeifuhren, grüsste er immer. Die dachten wohl, dass ist einer von irgendeinem Bauernhof in der Nähe. Er sagte uns, dass er sogar von der amerikanischen Militärpolizei, die auf Kreuzungen stand, eingewiesen wurde. Wir mussten uns aber weiter in den Bergen fortbewegen. Wir stiessen einmal auf eine Gruppe Landser mit fast 50 Pferden. Diesen schlossen wir uns kurz an. Ein Offizier führte diesen Haufen an. Der kannte viele Schleichwege. So ein Haufen von 50 Pferden und Reitern war schon imponierend, aber auch höchst riskant.

Wir haben uns bald wieder in kleinen Gruppen getrennt. Irgendwann später machten wir in einem kleinen Dorf Rast bei einem größeren Bauern. Dieser Bauer hat für uns den Tisch reichlich decken lassen. Vom Ami weit und breit nichts zu sehen. Das Risiko erwischt zu werden, wurde aber immer grösser. Wir entschlossen uns, dem Bauern die Pferde gegen Gebot zu verkaufen. Wir bekamen einen geräucherten Schinken und mehrere hundert Zigaretten. Ich glaube, dass ich Tränen in den Augen hatte als ich Abschied von meinem treuen Pferd nehmen musste.

"Mit einem Mal war der Ami auf dem Hof"

Mit einem Mal war der Ami auf dem Hof und wollte uns gefangennehmen. In der Zeit, als wir beim Essen waren, hatte der Bauer sich durch die Hintertür auf die Socken gemacht und beim Ami Bescheid gesagt, dass da drei Soldaten bei ihm auf dem Hof sind. Es waren nur ein paar Amis im Dorf. Meine Pistole hatte ich schon länger nicht mehr. Wehren wollten wir uns sowieso nicht. Die Amis nahmen uns dann bis zu dem Haus mit, wo sie sich einquartiert hatten. Wir drei mussten uns dann auf der Strassenseite des Hauses hinsetzen und der Dinge harren. Die Amis gingen dann erst mal rein und haben sage und schreibe erst mal Mittag gegessen. Wir sassen ganz ohne Bewachung draussen.

Aber auszurücken wagten wir auch nicht. Wenn ich hätte englisch sprechen können, hätte ich glatt gefragt, ob ich noch mal zum Hof zurückgehen könnte, um etwas Vergessenes zu holen. Ich hätte den Bauern zu gerne eine Weile mit der Mistgabel bearbeitet. Denn das war einfach zu viel für mich. Essen geben, Pferde abkaufen und uns dann verraten und sich so einen Namen machen wollen. Der Ami, auch später in Gefangenschaft, hat auf solche Typen nie richtig reagiert oder diese für voll genommen.

In meiner Dummheit und Angst hatte ich mein Wehrmachtssoldbuch weggeworfen. Denn da war ja auf irgendeiner Innenseite der Stempel der SS-Einheit drin, zu der man uns ja gegen unseren Willen eingezogen hatte. Es war ja bekannt, dass man mit Angehörigen der SS nicht zart umging. Meine Freunde und ich blieben aber noch zusammen. Dann kamen wir in ein Sammellager. Im Gefangenenlager wurden wir erstmal sortiert, Arme hoch und nach tätowierten Blutgruppen gesucht. Diese kamen erst mal rechts raus. So wurde ich von meinen Freunden und dem Schinken getrennt. Abschneiden oder teilen ohne Messer, die man uns abgenommen hatte, konnten wir nicht. Wir sahen uns leider nie mehr wieder.

Empfohlene Zitierweise:
Witte, Willi: Flucht und Gefangenschaft, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/willi-witte-flucht-und-gefangenschaft.html
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