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Willi Witte: Kriegsgefangenschaft im ehemaligen KZ-Dachau

Dieser Beitrag wurde von Willi Witte (*1928) aus Westerland/Sylt im Jahr 2001 verfasst.

Verlegung im Januar 1946

Etwa Mitte Januar 1946 hieß es in unserem Kriegsgefangenenlager Plattingen, wir kämen in ein anderes Lager. Die Parole ging um, dass Flüchtlinge in dieses Lager kommen sollten. Ob was an dem Gerücht dran war, habe ich nie erfahren. Aber ob das Lager ganz aufgelöst wurde, weiss ich nicht mehr. Ein Teil anderer Kameraden und ich fuhren mit großen dreiachsigen LKWs und verrückten Fahrern zum ehemaligen KZ Dachau. Ganz wohl war uns sicher nicht dabei. Aber es wurde nicht so schlimm, wie wohl einige erwartet hatten.

Ich kam in eine Baracke, die unmittelbar neben dem Aussenzaun und gegenüber von dem grossen Wirtschaftsgebäude lag. Wir waren ungefähr sechs bis acht Jugendliche, die sich in einer Ecke in den dreistöckigen Betten ihre Bleibe so gut es ging aufbauten. Die anderen waren alles schon ältere Soldaten in unserer Baracke. In dem ganzen Lager waren natürlich nur SS-Angehörige. Es fehlte auch kein Dienstgrad. Wir hatten einen ganz besonderen Typ eines Untersturmführers (Leutnant) in unserer Baracke mitwohnen. Erstens war er Blutordenträger. Er hatte 1923 den Marsch mit Hitler zur Feldherrenhalle mitgemacht. Dieser war blutig niedergeschlagen worden, und es hatte allerhand Tote unter den Anhängern Hitlers gegeben.

Blutorden

Die Überlebenden haben dann diesen berühmten Blutorden bekommen. Es mögen zwischen 10-20 Leute gewesen sein. Eine genaue Zahl der Überlebenden könnte man wohl durch Nachforschungen herausbekommen. Für meinen Erlebnisbericht wohl auch nicht so wichtig.

Diesen Blutordensträger hatte man zu seinem Orden auch noch zum Untersturmführer ehrenhalber befördert. Wer ihn kannte, konnte darüber nur mit dem Kopf schütteln, denn es reichte bei dem eigentlich nicht mal zum Gefreiten. Fanatisch war er immer noch und ebenso jähzornig. Wir Jungen hatten mal vor dem Wecken seine Holzschuhe festgenagelt. Wecken, Aufstehen und Zählappel vor der Baracke musste immer schnell gehen. Wir waren schon angetreten, da hörten wir aus unserer Baracke ein Höllenspektakel. Unser Untersturmführer war in die festgenagelten Schuhe gesprungen und hatte eine deftige Bauchlandung gemacht. Aus Wut darüber hatte er angefangen, die ganze Bude zu demolieren. Die Amis luden ihre MPs durch und stürmten die Bude.

Die hätten ihn glatt erschossen, wenn er den Arm gegen sie erhoben hätte. Aber es ging glimpflich ab. Er musste alles wieder aufräumen. Mit uns hat er nie wieder gesprochen.

Behandlung im Lager

Sonst war die Behandlung im Lager nicht schlecht. Die Verpflegung war nicht überreichlich, aber gut. Mit der Unterkunft waren wir sehr zufrieden. Ab und zu gab es auch mal Theateraufführungen im Speisesaal der Wirtschaftsbaracke. Es gab auch Arbeitsmöglichkeiten ausserhalb des Lagers. Bei so einem Kommando auf einem riesigen Benzinverladebahnhof in München war ich eine ganze Zeit lang mit dabei. Das Schönste dabei war, mal Zivilbevölkerung zu sehen. Von den LKWs winkten wir immer den Mädchen zu. Abends in der Baracke wurde dann gestritten, welches Mädchen zu wem gewunken hatte.

Es gab in diesem Lager sicher eine Menge Gefangener, die andere Sorgen hatten. Am anderen Ende des Lagers sollen ein ganzer Teil ehemaliger KZ-Aufseher untergebracht gewesen sein. Unserer Baracke gegenüber war durch eine hohe Mauer besonders abgesichertes flach gemauertes Gebäude. In diesem Gebäude mit Zellenfenstern waren die berüchtigte Ilse Koch und andere untergebracht. Irgendwann erzählte man, dass der Duce-Befreier Skorzeny ins Lager eingeliefert worden sei und auch in diesem besonders gesicherten Trakt untergebracht worden sei.

Wir hatten bald spitz, dass man wunderbar vom Dach des Wirtschaftsgebäudes aus auf die Zellenfenster gucken konnte. Die meisten taten es nur, um mal wieder Frauen zu sehen. Einige der inhaftierten Frauen waren auch nicht kleinlich im Vorzeigen ihrer Reize.

Hermann Göring in Dachau

Die wohl interessanteste Begegnung hatte ich (wir) bei einem Theaterbesuch im Wirtschaftsgebäude. Wir hatten uns schon gewundert, warum mehrere Bankreihen nicht besetzt waren. Da wurde tatsächlich Hermann Göring, bewacht von 20-30 Militärpolizisten, eingeführt. Die Bewacher setzten sich im Viereck (nicht auf Tuchfühlung) um Hermann Göring herum. Das wirkte irgendwie komisch; Göring von weissen Helmen eingerahmt.

Wieso Göring nach Dachau kam, war nie zu erfahren. Ob dieses in der Prozesspause in Nürnberg immer gemacht wurde oder warum auch immer, war einfach nicht zu erfahren. Ich sah jedenfalls Hermann Göring das dritte Mal in meinem Leben. So eine hohe Figur in Gefangenschaft zu sehen, war schon eine Sensation.

Einmal wurde ein grosser Teil des Lagers aufgerufen, sich draussen zu versammeln. Da wurde uns von einem gut deutsch sprechenden amerikanischen Offizier ein deutscher SS-General vorgeführt. Den hatte man draussen, in einer Gärtnerei arbeitend, aufgestöbert. Dieser wurde nach allen Regeln der Kunst vom Ami vor versammelter Mannschaft lächerlich gemacht. Für diese hohen Dienstgrade gab es einen besonderen Trakt im Lager. Hätte man diesen General bei uns untergebracht, hätten wir bestimmt auch mal seine Schuhe vor dem morgendlichen Zählappel festgenagelt. Wir kamen auch ohne diese Leute gut zurecht. Wenn die Amis von unserem überdrehten Blutordensträger gewusst hätten, wäre dieser wohl auch gesondert untergebracht worden. Vielleicht wussten sie es, haben ihn aber, wie wir anderen auch, nicht für voll genommen.

Heute bereue ich es, dass ich meine Erlebnisse nicht schon früher aufgeschrieben habe. Denn heute sind doch viele Erlebnisse (Namen, Daten, Verhörmetoden usw.) - auch durch gewollte Verdrängung - einfach aus dem Gedächtnis verschwunden. Aber auch in der Kriegsgefangenschaft sprachen wir so gut wie gar nicht über unsere Kriegserlebnisse. Für uns jüngere war die Gegenwart und die ungewisse Zukunft viel interessanter.

Wir brachten uns auch gegenseitig Tanzschritte bei. Denn, wie wir hörten, soll draussen feste getanzt werden. Das war wohl auch mit einer unserer grössten Wünsche: ein Mädchen im Arm zu halten.

Arbeit in der Schmiede

Eine Zeitlang hatte ich auch in einer grösseren Schmiede gearbeitet. Das war für mich, als angelernter Maschinenschlosser ganz gut. Denn ich hatte ja noch nicht ausgelernt. Die machten da viel Kunstschmiedearbeiten für die Amis. Leider war ich nur kurze Zeit dort. Aber andererseits war ich auch wieder froh darüber, denn der Schmied war ein grosser Klotz und ging nicht gerade sanft mit mir um. Trotzdem hätte ich ganz gerne in der Schmiede noch dazugelernt, denn im Nehmen war ich auch nicht gerade zimperlich. Aber irgendwie wurde ich woanders eingeteilt. Hauptsache war, dass man immer irgendeine Beschäftigung hatte und keine Langeweile aufkam.

Keine Gespräche über das Grauen

Obwohl wir im ehemaligen KZ Dachau untergebracht waren, hat man nie während unserer dortigen Gefangenschaft versucht, uns das Grauen, das dort mal stattgefunden hat, zu übermitteln. Mit höheren Dienstgraden und überführten ehemaligen Aufsehern ist das sicher anders gewesen. Wir haben dies aber nie erfahren. Überführte haben sich gehütet, im Lager darüber zu sprechen, denn sie wollten auch im Lager aus naheliegenden Gründen sicher unerkannt bleiben. Einiges über das KZ kam natürlich auch bei unseren Verhören durch den amerikanischen Verhöroffizier zur Sprache. Mit uns Jüngeren war er nicht ganz so streng bei den Verhören. Gefürchtet waren diese Verhöre schon. Wenn alles klar war, konnte man damit rechnen, nach Abschluss der Verhöre seine Entlassungspapiere zu bekommen.

Ein Jahr nach Kriegsende und am Tag der Kapitulation war ich noch in Dachau in Gefangenschaft. An den Tag kann ich mich noch ziemlich genau erinnern, denn irgendwie mussten alle im Lager bleiben. Draussen auf der anderen Seite des grossen Doppelzaunes waren ein ganzer Teil Menschen zu sehen. Darunter sollten viele ehemalige Häftlinge des Lagers Dachau gewesen sein, die nun die Stätte der Pein als freie Menschen besuchten. Was denen wohl in den Köpfen vorgegangen war, kann wohl nur einer nachvollziehen, der es selbst erlebt hat. Naja, wenn man überliefern und nachvollziehen könnte, hätten wir wohl für immer eine heile Welt.

Später hiess es, es wird ein Transport mit Leuten aus der britischen Zone zusammengestellt. Endlich Richtung Heimat! Wir konnten alles mitnehmen, was wir so besassen. Ich besass z.B. mehrere Jacken, Hosen, eine Pelzjacke, Schuhe und mehrere neue Feldflaschen mit Speiseöl. Alles war noch von Plattling. Die Feldflaschen mit dem Speiseöl hatte ich von unserem Lagerspiess aus Plattling und sollte sie seiner Familie überbringen. Ob das Öl noch gut war, weiss ich nicht mehr.

Empfohlene Zitierweise:
Witte, Willi: Kriegsgefangenschaft im ehemaligen KZ-Dachau, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/willi-witte-kriegsgefangenschaft-im-ehemaligen-kz-dachau.html
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