Dieser Beitrag wurde von Barbara M. (*1955) 2019 in Heilbronn verfasst.
„Wenn Sie frech werden, lassen wir Sie gar nicht reisen“
Anlässlich des 60. Geburtstages meiner Patentante beantragte ich 1988 bei der Dresdner Volkspolizei in der Schießgasse meine erste Besuchsreise in die Bundesrepublik Deutschland, nach Hannover. Da ich als DDR-Bürgerin nur zu nahen Verwandten reisen durfte, erklärte ich meine Großcousine und Patentante zur Schwester meiner Mutter. Eine Überprüfung der Verwandtschaft war damals nicht möglich.
Mein Arbeitgeber reichte eine gute Beurteilung bei der zuständigen Polizeidienststelle ein. Als alleinreisende, verheiratete Mutter zweier Kinder erhielt ich eine Unbedenklichkeitsbescheinigung und einen DDR-Reisepass. Die von der Behörde erwartete Dankbarkeit enttäuschte ich mit den Fragen: „Wozu brauche ich eine Unbedenklichkeitsbescheinigung? Was habe ich überhaupt ausgefressen? Mich können Sie reisen lassen, hier habe ich Ehemann und Kinder und komme wieder.“ Dabei legte ich verärgert ein Geschwisterfoto auf den Tisch und wurde verwarnt: „Wenn Sie frech werden, lassen wir Sie gar nicht reisen. Wir können auch anders!“
Viele positive Eindrücke
Mit Reisegeld von 15 DM und voller Erwartungen reisten wir Zwillinge für zehn Tage im Dezember 1988 von Dresden nach Hannover zur Patentante Annerose. Gemeinsam bummelten wir durch die saubere Stadt mit freundlichen Menschen und bestaunten das vielseitige Warenangebot. Beim Stadtbummel fragte man uns, wie uns jungen Frauen aus Sachsen eine Westreise vorm Rentenalter gelungen sei.
Bedrückende Rückkehr in die DDR
Am 21. Dezember 1988 feierten wir vergnügt den 60. Geburtstag meiner Patentante mit spontaner Festrede unseres Vaters und kulturellen Beiträgen. Mit der Nationalhymne und dem letzten Familienfoto endete die Feier, nach der wir unseren 72-jährigen Vater nie wiedersahen.
Am 23. Dezember 1988 fuhren wir nach Dresden zurück mit der Gewissheit, erst im Rentenalter wieder frei reisen zu dürfen. An der innerdeutschen Grenze empfanden wir bei strengen, unfreundlichen Kontrollen mit Spürhunden den Gefängnischarakter des Mauerstaates, unverdientes Schicksal und Ohnmacht.
Über Weihnachten und Silvester 1988/89 lud meine Tante unsere Eltern in den Schwarzwald ein. Auf der Heimreise nach Leipzig, beim Umsteigen in Karlsruhe am Bahnsteig 19, starb am 2. Januar 1989 nach Wiederbelebungsversuchen unser geliebter Vater an Herzversagen.
Eine Rückkehr ins ungeliebte Land lehnte er wohl ab. Elf Monate vor Mauerfall 1989 konnte er das Wunder der Wiedervereinigung Deutschlands leider nicht miterleben. Meine Patentante besuchte uns in den Jahren nach ihrer Flucht 1957 nur zweimal in Leipzig, zu meiner Hochzeit 1983 und zur Trauerfeier meines Vaters 1989, und stets war sie froh, wenn sie die DDR – den dämlichen Rest – wieder verlassen konnte.
Zur Person
Barbara M. wird 1955 in Leipzig geboren. Dort legt sie 1974 an der Erweiterten Oberschule Thomas (Thomasschule) ihr Abitur ab. Da ihr das Wunschstudienfach Medizin verwehrt wird, studiert sie zwischen 1974 und 1978 Verfahrenstechnik an der Technischen Hochschule Leuna-Merseburg und schließt das Studium als Diplom-Ingenieurin ab. Anschließend arbeitet sie im VEB Elektrotechnik Dresden sowie im VEB Getreidewirtschaft Dresden. Sie heiratet und bekommt zwei Kinder. Im Mai 1990 zieht sie mit ihrer Familie von Dresden nach Hannover und im Jahr darauf nach Heilbronn. Nach ihrer Elternzeit absolviert sie 1994/95 eine Umschulung zur Industriefachwirtin und arbeitet in diesem Beruf für verschiedene Firmen im Heilbronner Umland. 2018 geht sie in Rente und ist seitdem in verschiedenen Ehrenämtern aktiv. Barbara M. lebt mit ihrem zweiten Mann weiterhin in Heilbronn.
Empfohlene Zitierweise:
M., Barbara: Die erste Reise in die Bundesrepublik, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/barbara-m-die-erste-reise-in-die-bundesrepublik.html
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