Dieser Beitrag wurde von Christel Dux (*1948) aus Berlin im Jahr 2000 verfasst.
Im August 1961 war meine Cousine Inge gerade mit ihrem Verlobten in Berlin. Sie wollten ein paar Tage Urlaub in Berlin machen. Da wir nur eine Zweizimmerwohnung hatten, ich schlief mit meinen Eltern zusammen, konnten wir nur Inge bei uns aufnehmen.
Klaus, ihr Verlobter, entschloß sich, bei seiner Schwester in Westberlin zu übernachten. Da er Zeitsoldat war, durfte er das eigentlich nicht, es war für ihn auch eine Überwindung. Er blieb auch Soldat bis zum letzten Tag.
Wir schliefen schon alle, als es nach Mitternacht bei uns klingelte. Erstaunt schaute Mutti durch den Spion und sah Inges Verlobten vor der Tür stehen. Als sie öffnete, stand ein völlig verwirrter Klaus vor ihr. "Alles ist abgesperrt, und man kommt nicht mehr durch, ich habe es bei drei Übergängen versucht." Papa, Inge und ich kamen nun auch schlaftrunken aus dem Bett. Wir verstanden nur immer "Bahnhof", er schwafelte immer etwas von nicht mehr durchkommen, Soldaten und Stacheldraht, und wollten es nun genau wissen. Wir gingen zusammen ins Wohnzimmer und hörten zu, was Klaus uns erzählte:
"Ich brachte Inge zu Euch und wollte dann zu meiner Schwester fahren, kam aber an der Friedrichstraße und anderen Sektorengrenzen nicht mehr durch. Überall steht Volksarmee, und sie ziehen Stacheldrahtverhaue hoch", erklärte nun Klaus ruhiger und setzte sich erst einmal tief aufatmend auf den nächsten Sessel. Wir waren alle wie vor den Kopf geschlagen, natürlich wußten wir, und es wurde auch schon davon erzählt, daß es so nicht mehr bleiben konnte. Es gab keine Arbeitskräfte mehr, überall hörte man nur "keine Leute, keine Leute".
Nun war es aber doch ein gewaltiger Schock für uns, vor einiger Zeit sprach Ulbricht im Radio, ich höre noch heute seine Worte:
"Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen, die Bevölkerung der Deutschen Demokratischen Republik hat etwas anderes zu tun, als eine Mauer zu bauen." Zitat Ende. Diese Rede ist sicherlich noch in den Annalen zu finden bzw. zu hören. Nun hatten wir den Salat, ein Glück, ich hatte kurz vorher noch einen Petticoat und einen Hula-Hoop-Reifen bekommen. Keine Tante Gerda, kein Onkel Alexander.
Im Fernseher sahen wir dann, wie die Leute flüchteten, sie sprangen vor Verzweiflung aus dem Fenster, oft in den Tod. Wie die Menschen flüchteten und erschossen wurden, ist hinlänglich bekannt. Ein Fall ist mir noch genau in Erinnerung, ich sah es in der Abendschau, nicht allzulange vor der Grenzöffnung. Es versuchte ein junger Mann zu flüchten und wurde an der Mauer gestellt. Von einem Balkon aus konnte eine Westberlinerin diesen Vorfall beobachten, und sie schrie nur immer zu dem "vermeintlichen" Flüchtling: "Wie heißt du?", "Nenne deinen Namen!" Der junge Mann lief mit erhobenen Händen vor dem Grenzsoldaten her und rief seinen Namen, den ich leider nicht verstehen konnte; und heute, so hoffe ich stark, wird er irgendwo in Deutschland wohnen.
Oder der Fall von dem jungen Grenzsoldaten, der auf der Flucht seinen Kameraden an der Mauer erschoß. Er wurde in Westberlin verhaftet und verurteilt, saß seine Strafe ab und wollte dann seine Mutter hier im Osten besuchen. Die Grenzer nahmen ihn sofort fest, und er wurde zu lebenslänglicher Haft verurteilt, obwohl er schon für seine Tat gebüßt hatte. Er wird nun auch in Freiheit sein, hat aber einige Jahre gesessen. Alle diese Fälle kann ich nicht vergessen, wie einen Fall an der Grenze zu Westdeutschland, wo ein Mann zu Tode kam. Niemand wußte wie; er sollte zu Grenzsoldaten ins Kabuff, soll da angeblich mit dem Kopf gegen einen Heizungskörper gefallen sein und verstarb noch am Ort. Es wurde alles sehr ungenau bekanntgegeben, vielleicht weiß die Witwe heute schon mehr über diesen, doch sehr undurchsichtigen, Fall.
In der Schule hörten wir vom "antifaschistischen Schutzwall" und wie wichtig er war.
"Immerhin flüchteten bis 1961 3,5 Millionen Menschen, dazu kam noch die Abwerbung. Facharbeiter wurden regelrecht geködert, dafür gab es ausgebildete Leute, die unsere Bürger mit Versprechungen nach dem Westen lockten", erklärte uns ein Lehrer.
Wer nun dafür verantwortlich war, ob Honecker oder Ulbricht, wer den Schießbefehl gab, es war uns egal. Familien wurden getrennt, es gab vorläufig keine Hoffnung, sie wiederzusehen.
Wir setzten nun alle Hoffnungen auf Willy Brandt, der die Lage Berlins klären wollte. Willy Brandt, "unser" Bürgermeister, würde uns helfen. Saßen wir nicht alle vor dem Radio, als er 1957 zum Bürgermeister von Berlin gewählt wurde, jeder wußte, Willy hat ein Herz für uns Ostdeutsche. Er konnte uns aber auch nicht helfen, es kam nur zu einer Protestkundgebung vor dem Schöneberger Rathaus.
Zunächst kam es noch, wie oben erwähnt, zu den großen "Winkaktionen". Aber der Stacheldraht wurde immer undurchlässiger, schließlich wurde es verboten, diese Gebiete zu betreten, es kam zu Sperrgebieten, die ständig vergrößert und erweitert wurden.
Empfohlene Zitierweise:
Dux, Christel: Mauerbau 1961, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/christel-dux-mauerbau.html
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