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Christine Resties: In der Höhle des Löwen - unsere Stasireise

Dieser Eintrag stammt von Christine Resties (*1940) und wurde am 12.2.2000 in Leipzig verfasst.

In der Höhle des Löwen - Unsere Stasireise

Das Geschehnis, von dem ich berichten möchte, hat sich im Jahre 1973 zugetragen. Gleich zu Beginn möchte ich versichern, dass ich daran nichts beschönigt und nichts hinzugefügt habe. Was ich beschreibe, ist ein Stück Alltag aus einem verblichenen Staatsgebilde, das sich protzig Deutsche Demokratische Republik nannte und von Demokratie leider so gut wie nichts verstand.

Hinter uns lagen aufregende Monate. Vor knapp einem halben Jahr war mein Großonkel aus Thüringen im Alter von 78 Jahren gestorben. Da es keine näheren Verwandten gab, hatten wir uns auf Bitten seiner ebenfalls betagten Frau bereit erklärt, die Urne bei uns in Leipzig beizusetzen und das Grab zu pflegen. Was nun den wenig spektakulären Vorgang der Urnenüberführung zum erregenden Mittelpunkt unseres Lebens machte, war, daß die Urne trotz wiederholter Vorsprache und Eingaben bei den Behörden nicht in Leipzig ankam.

Etwa zur gleichen Zeit als mein Großonkel starb, hatten wir uns um eine Ferienreise in den uns möglichen sonnigen Süden, sprich: die bulgarische Schwarzmeerküste, bemüht. Um in den Genuß einer dieser heiß begehrten, aber stark limitierten Reisen zu gelangen, hatten wir in eisiger Kälte eine Nacht auf Campinghockern vor dem Reisebüro in enger Wartegemeinschaft mit Gleichgesinnten zugebracht. Unsere Geduld wurde belohnt. Wir ergatterten eine 14tägige Reise nach Varna für meinen Mann, mich und unsere vierjährige Tochter zum üblichen Preis von ca. 1300 Mark pro Person.

“Urne […] nicht zur Beisetzung freigegeben“

Je näher der Reisetermin rückte, umso belastender wurde für uns die Tatsache, daß die Urne mit der Asche meines Großonkels nicht zur Beisetzung freigegeben wurde. Für uns bestand kein Zweifel daran, daß es sich nicht um eine Nachlässigkeit, sondern um einen Willkürakt seitens der Behörden handelte, denn mein Großonkel war dem Staat zu Lebzeiten ein Dorn im Auge gewesen. Wegen seiner Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas war er von den kommunistischen Machthabern verfolgt, verhaftet und im Jahre 1950 ohne Verfahren wider alle Regeln der Gerechtigkeit wegen angeblicher Staats- und Boykotthetze zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden und das, nachdem dieser Mensch bereits unter Hitler acht Jahre im Konzentrationslager unter grausamen Bedingungen zugebracht hatte. Unter den Nationalsozialisten wie unter den Kommunisten bestand sein einziges Vergehen darin, daß er standhaft und jedweder Gewalt zum Trotz darauf beharrte, die Gebote seines Gottes höher zu achten als die der jeweiligen Diktatoren.

Wir gehörten der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas zu keiner Zeit an, achteten aber deren Gedankengut und immer, wenn wir darüber nachdachten, was diesen Menschen, die im sprichwörtlichen Sinne keiner Fliege ein Leid antun könnten, widerfahren war, sträubten sich uns die Haare im Zorn. So auch jetzt. Das Warten brachte unser Faß zum Überlaufen, es mußte etwas geschehen, ich mußte etwas unternehmen, mußte mich gegen die unsinnige Schikane zur Wehr setzen, die gegen die sterblichen Überreste - man bedenke: Asche! - meines Großonkels ausgeübt wurde, eines Mannes, dem Jahrzehnte seines Lebens Unrecht und sehr viel Leid zugefügt worden waren.

Audienz beim Bürgermeister

So in Rage geraten, gelang es mir, eine Audienz beim Bürgermeister der Stadt zu erwirken, in der mein Großonkel bis zu seinem Tode gelebt hatte. Wider Erwarten wurde ich freundlich nach meinem Anliegen gefragt, und als ich an der Wand auch noch einen Druck von Feininger entdeckte, den Dom von Halle, wurde ich ruhiger und mutiger. Feininger war nicht unbedingt der Maler, der in der Gunst der SED-Leute stand, er war zwar nicht verboten, aber auch nicht erwünscht. Wer also als Bürgermeister einen Feininger im Amtszimmer hängen hatte, der mußte auch irgendwie ein vernünftiger Mensch sein, mit dem mußte man reden können. Der Feininger an der Wand war ein gutes Omen. Also legte ich los und schilderte dem Bürgermeister mein Anliegen mit eindringlichen Worten. Ich vergaß auch nicht zu bemerken, wie sehr die Zeit drängte und daß ich die Asche meines Großonkels noch vor unserem Urlaub unter der Erde wissen wollte. Als der Bürgermeister mir versprach, sich der Angelegenheit anzunehmen, schien er fast bewegt zu sein. Immerhin reichte er mir zum Abschied wohlwollend die Hand und bemerkte, daß ihm junge energische Frauen sehr sympathisch seien. Das alles versetzte mich in eine gewisse Hochstimmung, die noch anhielt, als ich wieder zu Hause in Leipzig war.

Bulgarienreise genehmigt

Bereits zwei Woche später stand uns die Urne in Leipzig zur Verfügung, und wir durften sie während einer kleinen Feierstunde der Erde übergeben. Kurz darauf traf die erfreuliche Nachricht ein: die Bulgarienreise war genehmigt. Ich lief sofort los, um die Rechnung zu begleichen. Zu meinem Erstaunen überreichte man mir nur Unterlagen für zwei Personen. Noch völlig arglos machte ich die Angestellte des Reisebüros auf dieses Versehen aufmerksam. Doch mein Gegenüber teilte mir ziemlich kurz angebunden mit, das sei so schon in Ordnung, meinem Mann und meiner Tochter sei ein Visum erteilt worden, mir jedoch nicht. Auf meine erstaunte Frage nach dem Warum, erklärte sie mir, daß gewichtige Gründe vorliegen müßten, über Einzelheiten könne sie aber keine Auskunft erteilen. Sie forderte mich auf, rasch zu entscheiden, ob mein Mann und meine Tochter die Reise auch ohne mich antreten würden, ja oder nein. Da sie nicht bereit war, mir für weitere Nachforschungen Aufschub zu gewähren, blieb mir nichts anderes übrig, als die Reise zurück zu geben. Ich wußte, ohne mich würden mein Mann und meine Tochter nicht nach Bulgarien fliegen wollen. Uns blieb ja immerhin die Möglichkeit, gemeinsam mit dem Zelt in Richtung Ostsee aufzubrechen oder wenigstens an die Mecklenburger Seenplatte. Sollten sie mir mit ihren ewigen Gängeleien doch den Buckel runter rutschen.

Doch die Ungewißheit wurmte mich. Was lag gegen mich vor? Ich war mir keiner Schuld bewußt. Hatte mich irgend jemand angeschwärzt, gar verleumdet? Oder lag doch nur ein Irrtum vor? Oder war die ganze Sache im Zusammenhang mit der Beerdigung meines Großonkels zu sehen? Unsinn! Vielleicht, weil der Großonkel Mitglied bei den verbotenen Zeugen Jehovas gewesen war? Unsinn! Der Großonkel hatte bereits im Zuchthaus einen Schlaganfall erlitten, in dessen Folge sein Sprachvermögen gestört war. Er war seit Jahren ans Bett gefesselt gewesen - pflegebedürftig, hilflos und geistig geschwächt.

“Ich gehe zur Staatssicherheit“

"Ich gehe zur Staatssicherheit, ich lasse das nicht auf mir sitzen", erklärte ich meinem Mann. Wohl wissend, daß mich nichts von meinem Vorhaben abbringen würde, mahnte er zur Vorsicht und riet von unbedachtem Handeln ab. Doch längst hatte der Stier von mir Besitz ergriffen, der unbedingt mit dem Kopf durch die Wand wollte. Egal, was passiert, redete ich mir trotzig ein, ich will Klarheit und Gerechtigkeit, und die kann ich nur bekommen, wenn ich bis in die Höhle des Löwen vorstoße. Kurz entschlossen machte ich mich auf den Weg in die Dimitroffstraße zum Hauptgebäude der Staatssicherheit in Leipzig.

Bevor man mich endlich aufforderte, ein Dienstzimmer zu betreten, hatte ich gute zwei Stunden auf einem schlecht beleuchteten Korridor zugebracht. Dort hatte ich Zeit, die Umgebung auf mich wirken zu lassen. Das Innere des Gebäudes zu beschreiben wäre müßig. Alles war trist, öde, kahl und schäbig. Eigentlich konnten einem die Leute leid tun, die hier ihren Tag verbringen mußten. Einige Male war ein Bediensteter aufgetaucht, der mich im Vorbeigehen gemustert hatte. Mein Anliegen war ihm mit Sicherheit bekannt, ich hatte es bereits beim Betreten des Hauses detailliert schildern müssen. Jetzt, im Dienstzimmer, saß ich zwei Männern gegenüber, denen ich die Sache von dem verweigerten Visum noch einmal haarklein vortragen durfte. Dabei sah ich in regungslose Gesichter. Und wie befürchtet bekam ich keine Antwort, die mich weiter brachte. Der Ältere der beiden ergriff schließlich das Wort und sagte monoton: "Sie können sicher sein, es liegt kein Irrtum vor. Das Visum wurde Ihnen aus Gründen, die wir nicht näher erklären werden, verweigert. Bitte verlassen Sie jetzt den Raum."

"Das reicht mir nicht als Antwort", hörte ich mich sagen. "Ich bin mir keiner Schuld bewußt, und ich werde hier erst weggehen, wenn ich weiß, was der Grund dafür ist, warum ich nicht gemeinsam mit meiner Familie in Bulgarien Urlaub machen darf." Schweigen. Die dachten nicht im Traum daran, mir eine Antwort zu geben. Das steigerte meinen Widerpart. "Ich kann mir schon denken, woran es liegt", bluffte ich und ging zielstrebig meiner Vermutung nach. "Es ist wegen meines Großonkels, der zu Lebzeiten bei den Zeugen Jehovas aktiv war und den wir hier in Leipzig beerdigt haben." Jetzt zeigte der Jüngere von beiden eine Regung, denn er zog eine Augenbraue hoch, und der Ältere sah sich zu einer stereotypen Antwort genötigt: "Darüber brauchen wir Ihnen keine Auskunft erteilen."

“Sippenhaft“

"Also habe ich Recht", folgerte ich. "Es ist wegen eines armen, alten Mannes, mit dem ich nicht einmal blutsverwandt bin. Das ist Sippenhaft, das hatten wir schon einmal. Mein Mann und ich haben weiter nichts getan, als diesen Menschen beerdigt. Einer mußte das doch schließlich tun oder? Aber wenn Sie darin eine Handlung sehen, die Sie veranlaßt, mir das Visum für die Ausreise zu verweigern, gut, dann machen wir das Ganze einfach rückgängig." Gespannte Aufmerksamkeit mir gegenüber. Nun konnte ich nicht mehr zurück und trumpfte wütend auf: "Ich schlage Ihnen einen Kuhhandel vor: Urne gegen Visum. Wenn ich mein Visum nicht bekomme, bin ich morgen wieder da und stelle Ihnen die ausgebuddelte Urne hier auf den Schreibtisch. Dann machen Sie doch meinetwegen damit, was Sie wollen."

Nach geraumer Weile kam Bewegung in die Szene. Der Ältere sagte: "Warten Sie mal", und verließ den Raum. Der Jüngere blieb sitzen. Ich hatte jetzt Zeit festzustellen, daß er eigentlich ein ganz hübscher Bursche war. Ich sah ihm darum mit gespannter Aufmerksamkeit in die Augen. Er guckte zurück und sagte huldvoll: "Wir werden den Fall noch einmal prüfen."

Als der Ältere wieder herein kam, umspielte die Spur eines Lächelns seine schmalen Lippen. "Wir haben entschieden, daß Sie die Reise antreten dürfen", verkündete er.

"Das ist ein bißchen spät", muckte ich auf. "Inzwischen habe ich die Reise zurück gegeben. Wo bekomme ich nun eine neue Reise her?"

"Gehen Sie zum Reisebüro, man wird Sie bedienen."

Erneut im Reisebüro

Für den Weg von der Dimitroffstraße bis zum Reisebüro am Markt benötigte ich zu Fuß etwa zehn Minuten. Zu meinem Erstaunen wurde ich bereits erwartet. Nach beinahe herzlicher Begrüßung unterbreitete man mir folgendes Angebot: 21 Tage Varna für einen Preis von 740 Mark pro Person, für die kleine Tochter jedoch nur 520 Mark. Da konnte ich nicht nein sagen, ganz im Gegenteil, ich griff begeistert zu und war mit dem Erfolg meines Einsatzes für die Gerechtigkeit höchst zufrieden.

In Varna angekommen, steigerte sich unsere freudige Stimmung von Stunde zu Stunde. Um es mit wenigen Worten zu sagen: wir waren glücklich. Und so dachten wir uns auch nichts dabei, als die Reisegruppe zu einer Beratung zusammen gerufen wurde. Vielleicht ein Glas Sekt zur Begrüßung, derlei war nicht unüblich...

Ferienaufgabe: „Beobachten“

Es blieb nicht bei dem Glas Sekt. Es ging sehr schnell zur Sache, und es brauchte nicht allzu lange, bis es uns wie Schuppen von den Augen fiel. Großer Gott, wo waren wir hingeraten? Und was für eine Frechheit, gerade uns für diesen Irrsinn einzuspannen! Die Ferienaufgabe, die man uns zugedacht hatte, lautete: Beobachten Sie ostdeutsche Urlauber, die Hotels betreten, die vorrangig von westdeutschen Urlaubern belegt sind, um dort Zeitungen und Journale zum eigenen Bedarf zu entwenden. Versuchen Sie, Namen oder Hotelzimmer dieser Urlauber zu erfragen und setzen Sie Ihre Reiseleitung davon in Kenntnis.

Wir sind nie dahinter gekommen, ob man uns als Mitglieder dieser besonderen Reisegruppe automatisch für Stasileute gehalten hat oder ob wir mit dem Köder Reise erst geworben werden sollten. Wir haben das Ansinnen mit klaren Worten zurück gewiesen.

Den Rest der Reise verbrachten wir unbehelligt. Auch später belästigte man uns nie wieder. Für uns steht fest, jeder, der mit der Firma irgendwann und irgendwie in Berührung gekommen ist, hatte die Möglichkeit, sich zu verweigern. Wer sich je zur Mitarbeit hat hinreißen lassen, hat es um seines kleinen, schäbigen Vorteils willen getan, alle anderen Erklärungen sind billige Ausreden, um im Nachhinein ein erbärmliches menschliches Versagen zu kaschieren.

Empfohlene Zitierweise:
Resties, Christel: In der Höhle des Löwen - unsere Stasireise, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/christel-resties-unsere-stasireise.html
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