Dieser Beitrag wurde von Heinz Clemens (1926-2008) aus Dresden verfasst.
August 1968 in Nordböhmen - Wir erlebten den Einmarsch der Sowjetarmee in die CSSR
"Naja", sagte mein Kollege Willi, "Da fahre nur, du hast ja Fronterfahrung. Aber vergiß die weiße Fahne nicht für deinen Bungalow!"
Mir war für meine Familie ein Austausch-Ferienplatz in einem Bungalow der Nordböhmischen Energieversorgung in Stare Splavy (Thamühl) [heute: Doksy] am Mácho Jezero (Hirschberger See) zugesprochen worden. Gute Ferienplätze kamen gleich nach Lotterie-Gewinnen. Darauf sollte ich verzichten, weil die politische Lage kritisch war? In den Wäldern zwischen Dresden und der südlichen Landesgrenze wimmelte es zwar von Sowjetsoldaten, Fahrzeugen und Panzern. Ich hoffte aber auf den "status quo".
Mit zwei Koffern bepackt begaben wir uns (meine Frau und zwei schulpflichtige Töchter) zum Zug. (Auf den Trabi mußten wir laut Ankündigung noch zwei weitere Jahre warten). Über Decin und Ceska Lipa (Böhmisch Leipa) träumten wir dem Ziel entgegen. Der Ort sollte nicht groß sein und wir uns bei Pan Turek im Bungalow-Dorf melden. Zwischen den Schwaden der Lokomotive, die wie fein zermahlene böhmische Braunkohle in der Luft hingen, blickten wir ins Gelände. Dabei schwante mir nichts Gutes. In den Waldstücken vor dem Zielort grüßten uns Dutzende von Bungalow-Dörfern. Als wir dann an dem kleinen Bahnhof ausstiegen, stand ein prächtiges Gewitter am Himmel. Es begann in Strömen zu regnen. Da liefen wir schnell in ein tschechisches Ferienheim des "ROH" und konnten dort erst einmal Kinder und Koffer unterbringen. Den Pan Turek kannte niemand. Nachdem die "Sintflut" etwas nachgelassen hatte, machte ich mich mit meiner Frau über glitschige Waldwege auf die Suche durch die Feriendörfer. Wir kamen nach längerer Wanderung in ein Ferienlager mit deutschen und tschechischen Kindern. Der Leiter sprach deutsch und sagte: "Da müssen wir helfen". Er visierte sein Verpflegungsfahrzeug an, ließ uns einsteigen, und die Fahrt ging mit uns los. Kraftfahrer wissen immer viel, und an der zweiten Bungalow- Siedlung hatten wir schon Pan Turek gefunden. Vor dem Häuschen stehend empfing er uns: "Auf Euch warten wir schon seit Vormittag!" Die Kinder, die inzwischen mit Kuchen und Tee bewirtet waren, wurden geholt. Wir zogen in einen größeren Raum des "Chef-Bungalows" ein, darin waren Dusche und Toilette vorhanden, ein Vorteil für die deutschen Gäste.
Schöne Urlaubstage und Aufbruchsstimmung
Es folgten schöne Tage mit Spielen im Wald, Kahnfahrten auf dem See oder Wandern in der näheren Umgebung. In der Abenddämmerung sahen wir einem alten Maler zu, der den See und im Hintergrund den Bézdez (Bösig)-Berg aufnahm. Ein solches Bild würden wir gern als Erinnerung mitnehmen. Dazu mußten wir aber erst einmal abwarten, wieviel Kronen uns zum Urlaubsende verblieben.
Den Kindern wollten wir Prag zeigen. So machten wir uns am 19. 8. per Bahn auf den Weg. In der Stadt und auf der Burg war trotz vieler Besucher alles ruhig. Lediglich am Wenzel-Denkmal lagerten einige Jugendliche in bunten Uniformen1 z. T. mit alten Orden behangen. Soweit es zu Kontakten mit der Bevölkerung kam, war überall eine Art Aufbruchsstimmung und eine Zufriedenheit mit der Politik von Alexander Dubcek zu spüren.
Lärm in der Nacht
Am Dienstag, dem 20. 08. gingen wir früh zu Bett, während tschechische Kollegen bei Pan Turek noch in feucht-fröhlicher Runde zusammensaßen. Es war noch nicht hell geworden am nächsten Morgen. Tochter Coni kam von der Toilette ins Zimmer, weckte uns und meinte: "Die Tschechen müssen aber noch ganz schön besoffen sein. Der Chef sagte gerade zu mir, ich solle den Vater wecken, die Russen wären da!". Meine Frau horchte hinaus und war der Meinung, daß über dem Wald viele Hubschrauber kreisen und den Lärm verursachen - Nachdem ich, noch etwas schlaftrunken, meine Ohren spitzte, mußte ich feststellen, daß der Lärm von Panzerketten herrührte. Das war' s dann auch. In einiger Entfernung führte eine Hauptstraße durch den Wald in Richtung Prag. Wir standen auf. Die tschechischen Kollegen stellten einen Fernsehapparat vor den Bungalow und übersetzten Teile der Rede des Präsidenten Svoboda. "Wir haben sie nicht gerufen", sagte er sinngemäß. "aber es soll kein Widerstand geleistet werden!"
Ich beschloß, auf die restlichen drei Urlaubstage zu verzichten. Die tschechischen Kollegen hielten diesen Entschluß für richtig und begleiteten uns zum Bahnhof, nachdem wir noch bei dem Maler unsere letzten Kronen gegen das gewünschte, noch etwas unvollendete Bild vom See, eingetauscht hatten.
Generalstreikstimmung
Es herrschte Generalstreikstimmung mit Heulen der Fabriksirenen. Nun wollte ich möglichst schnell Decin nahe der Grenze erreichen, bevor nichts mehr ging. Der Zug fuhr noch planmäßig, kilometerweit parallel zur Straße, auf der sich die Panzer in Gegenrichtung bewegten.
Russische Soldaten schauten aus den Luken der Panzertürme, auch eine Frau, deren langes, blondes Haar im Wind wehte. Die Reaktion der einheimischen Fahrgäste im Zug war eindeutig. Flüche und Fäuste richteten sich gegen die Panzerkolonne. Gegenüber unseren Töchtern war man freundlich und schenkte ihnen Obst.In Decin angekommen, stand ein langer D-Zug auf Bahnsteig 1, ohne Lokomotive. Wir konnten in einem Abteil Platz finden. Zwei junge deutsche Touristen hatten offensichtlich ihre gesamten Kronen in "Pilsner" umqesetzt. Sie erzählten uns - schon in fröhlicher Stimmung - von den Erlebnissen der letzten Stunden: Gegen Mitternacht - ahnungslos in Dresden abgereist - wunderten sie sich nur über die glühwürmchenähnlichen Lichterketten auf den Straßen in Richtung Prag. In Praha Stred (Bahnhof Prag-Mitte) angekommen, warnten aufgeregte Leute vom Verlassen des Bahnhofs. Unsere beiden Touristen hielten die Leute auch für betrunken und wanderten in Richtung Wenzelsplatz. Dort wurden sie stutzig, als plötzlich Kugeln durch die Luft pfiffen. Also schnell Deckung in einer Souterrain-Fensternische, und dann "Sprung auf, marsch, marsch" zum Bahnhof zurück. Es gab noch viel Bier dort. Der Zug fuhr wieder in Richtung Dresden ab, eben bis Decin.
Alle warteten auf die Abfahrt. Inzwischen brachten noch eine Reihe von Zubringerzügen Deutsche aus Nordböhmen. Der D-Zug war schon überfüllt. Am Kiosk gab es noch Kekse und Limonade. Durch falsche Nachrichten aus Liberec (Reichenberg) verstimmt (dort sollten Deutsche aus Panzern heraus Tschechen erschossen haben) schloß der Kiosk - es gab nichts mehr für die Deutschen.
Lagemeldungen vom Deutschlandfunk
Tochter Coni besaß ein kleines Transisterradio. Von den DDR-Sendern wurden nur laufend banale Erklärungen verlesen. Der Deutschlandfunk brachte jedoch Lagemeldungen. Immer, wenn das Signal des Senders erklang, standen viele um Conis Radio auf dem Bahnsteig und verschlangen die neuesten Nachrichten des Senders, der in der DDR als unerwünscht galt.
Zur Zugabfahrt gab es keine verbindliche Auskunft. Der Bahnhofsleiter sagte: "Heute, oder morgen oder später - erst muß die DDR eine Lokomotive schicken" - Dies geschah dann doch noch gegen Abend.
Letzter Zug über die DDR-Grenze
Nun startete der für Wochen einzige und auch letzte Zug über die DDR-Grenze. Alle Urlauber, die gemäß dem DDR-Aufruf an den Ferienorten verblieben, konnten z. T. erst nach Wochen und über die Slowakei, die Ukraine und Polen in die Heimat zurückkehren. Dabei hatten sie manchmal unter erheblichen Repressalien durch die infolge von Fehlinformationen gegen die Deutschen aufgebrachte tschechische Bevölkerung zu leiden. Meine Strategie erwies sich als richtig.
Am ersten Arbeitstag empfing mich mein Direktor, der schon oft nach meinem Verbleib gefragt hatte, sichtlich erleichtert. Auch der Oberbürgermeister von Dresden, offensichtlich auf Grund zentraler Anweisungen, hatte sich schon mehrmals nach meiner Frau - einer kleinen Finanzbearbeiterin - persönlich erkundigt und freute sich, sie nun wieder im Rathaus begrüßen zu können. So waren wir in den nächsten Wochen die wenigen Augenzeugen zum CSSR-Geschehen - und fast berühmt geworden.
Zur Person
Heinz Clemens wird 1926 in Obercunnersdorf (Kreis Löbau/Sachsen) geboren. In Böhlen bei Leipzig besucht er die Volksschule und macht eine Lehre zum Elektromechaniker. Nach Reichsarbeitsdienst und Wehrdienst kämpft er im Zweiten Weltkrieg als Soldat der Wehrmacht. Er wird verwundet und in verschiedenen britischen Krankenhäusern versorgt. Ab 1950 studiert er in der DDR an der Arbeiter- und Bauern-Fakultät der Technischen Hochschule und an der Technischen Universität Dresden Elektrotechnik. Nach dem Diplom arbeitet er als Lehrbeauftragter an der TH und der TU Dresden, 1970 promoviert er. Clemens arbeitet bis 1991 als Forschungsgruppenleiter in der Energieversorgung und geht 1992 in Ruhestand. Heinz Clemens stirbt im Jahr 2008.
Empfohlene Zitierweise:
Clemens, Heinz: August 1968 in Nordböhmen - Wir erlebten den Einmarsch der Sowjetarmee in die CSSR, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/heinz-clemens-august-1968-in-nordboehmen.html.html
Zuletzt besucht am: 17.11.2024