Zeitzeugen > Geteiltes Deutschland: Gründerjahre

Heinz Clemens: Wir fahren nicht nach drüben

Dieser Beitrag wurde von Heinz Clemens (1962-2008) aus Dresden verfasst.

Zur Sputnik-Zeit

Es begab sich etwa zu der Zeit, als der erste Sputnik sein "Piep - piep - piep..." aus dem Kosmos auf die Erde sandte. Dieses Ereignis wurde weltweit in Schlagzeilen kommentiert. Es war so bedeutend, daß ein in der DDR beliebtes Straßenfahrzeug den Namen, ins Deutsche übertragen, entlieh und daß sogar die berühmt-berüchtigten Wirtinnen-Verse um mindestens einen mit dem Ausdruck "Satelliten" reicher wurden.

Später Herbst - im Norden der DDR hatten viele Bauern ihre Höfe verlassen und waren in den Westen gegangen. Die Kartoffelernte war gefährdet, die Rüben steckten natürlich auch noch im Boden. Also: Studenten an die Basis der Ernährungswirtschaft! Ende Oktober schließlich hieß es auch für die Diplomanden der TU Dresden - Maschinenbauer, Architekten, Elektriker und was es da alles noch gab - ran an die Kartoffeln. So mitten aus der ersten wissenschaftlichen Tätigkeit gerissen, hielt sich unsere Begeisterung in Grenzen. Doch wir hatten immer wieder gelernt: "Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit ...". Die Notwendigkeit der Sicherung unserer Ernährung einsehend, waren wir gewissermaßen frei und nahmen das Kommende gelassen, nicht ohne Humor.

"Jede Rübe ein Meilenstein auf dem Weg zum Sozialismus!"

Einige Kommilitonen meinten offenbar, daß eine solche Zugfahrt gen Norden nicht ohne die passenden Parolen ablaufen könne. Woher die viele Kreide kam, ist mir bis heute noch nicht ganz klar. Jedenfalls zierten bereits in Riesa die ersten Losungen die Wagenwände. Bei der Einfahrt in Halle gab es in unserem Bereich, soweit sichtbar, keinen Wagen mehr ohne schmückende Zeichnungen und Sprüche. Einige sind mir im Gedächtnis geblieben: "Wir fahren nicht nach drüben, wir fahren in die Rüben" (wobei das Wort "drüben" so oder so in der DDR eine besondere Bedeutung hatte). Oder:

"Jede Rübe ein Meilenstein auf dem Weg zum Sozialismus!" (verziert durch eine Skizze unseres Semesterzeichners: z. B. einen Straßenmeilenstein mit einem darauf hackenden Rabenvogel inmitten von Rüben).

Die Sprüche - eine Mischung von Humor und etwas abgelassenem Frust. Aber irgendwer fand immer etwas Gefährdendes. In Halle angekommen, sollte es wegen Maschinenwechsels zwanzig Minuten Aufenthalt geben. So jedenfalls verkündete es der Bahnhofslautsprecher. Trägerkolonnen wurden bestimmt, aus der Gastwirtschaft Getränke heranzuschaffen. Sie waren noch nicht lange verschwunden, da gab es plötzlich helle Aufregung.

Der „Rotmützige“

Der "Rotmützige" verkündete nach Trillerpfeifensignal, daß alle sofort einzusteigen hätten, der Zug würde augenblicklich den Bahnhof verlassen. Jedoch - da hatte der "Rotmützige" nicht mit dem Solidaritätsgefühl der Studenten gerechnet. Die noch im Zug verbliebenen Kommilitonen stiegen aus und bekundeten, nicht eher wieder einzusteigen, bis der letzte Mitstreiter mit den Getränken wieder am Zug sei. Und die Studenten blieben hartnäckig. Irgendwann waren dann alle "Transportkolonnen" wieder am Zug. Der Bahn-Verantwortliche war sichtlich erleichtert, als er das Abfahrtssignal erteilen konnte. Wir machten es uns mit Essen und Trinken wieder in den Wagen bequem. So ging es fröhlich und ohne Aufenthalt bis nach Wittenberge. Dort wurde der Zug jedoch auf ein Nebengleis außerhalb des Bahnhofs geleitet. Rechts und links des Zuges standen Bahnpolizisten in voller Montur Spalier. Das Öffnen der Abteiltüren wurde untersagt, gegenteilige Versuche mit Tritten gegen die Tür beantwortet. Mit Wasser und Lappen wurden die Wagen abgewaschen. Fragen vorwitziger Studenten blieben zunächst unbeantwortet. Nun faßten sich zwei der Studenten - Mitglieder der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands - den Mut, stiegen aus und fragten die Polizisten nach dem Sinn der Aktion. Als die Uniformierten merkten, daß sich keine extrem gefährlichen Menschen, im Gegenteil: sogar Genossen, im Zug befanden, wurden sie etwas zugänglicher. Wir erfuhren, daß die Bahnpolizisten vom Sonntags-Nachmittags-Kaffee weg in Alarmbereitschaft versetzt worden waren. Ein Zug mit konterrevolutionären Losungen und mit dem Ziel, die DDR "aufzurollen", sollte gestoppt werden.

Zur Person

Heinz Clemens wird 1926 in Obercunnersdorf (Kreis Löbau/Sachsen) geboren. In Böhlen bei Leipzig besucht er die Volksschule und macht eine Lehre zum Elektromechaniker. Nach Reichsarbeitsdienst und Wehrdienst kämpft er im Zweiten Weltkrieg als Soldat der Wehrmacht. Er wird verwundet und in verschiedenen britischen Krankenhäusern versorgt. Ab 1950 studiert er in der DDR an der Arbeiter- und Bauern-Fakultät der Technischen Hochschule und an der Technischen Universität Dresden Elektrotechnik. Nach dem Diplom arbeitet er als Lehrbeauftragter an der TH und der TU Dresden, 1970 promoviert er. Clemens arbeitet bis 1991 als Forschungsgruppenleiter in der Energieversorgung und geht 1992 in Ruhestand. Heinz Clemens stirbt im Jahr 2008.

Empfohlene Zitierweise:
Clemens, Heinz: Wir fahren nicht nach drüben, wir fahren in die Rüben!, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/heinz-clemens-wir-fahren-nicht-nach-drueben.html
Zuletzt besucht am: 22.12.2024

lo