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Horst Bartsch: Begegnung in einem italienischen Dorf

Dieser Beitrag wurde von Horst Bartsch aus Bonn im Jahr 1996 verfasst.

Meine erste Reise in das Ausland unternahm ich 1952 als 16jähriger Pfadfinder. Es war eine vierwöchige Tramptour durch die Schweiz nach Italien. Eine Begebenheit ist mir bis heute in guter Erinnerung geblieben. Es war die Begegnung mit den Bewohnern eines italienischen Dorfes in der Nähe von Mailand. Und so trug sich die Geschichte zu:

Mitfahrgelegenheit nach Mailand

Bei Como, von Lugano kommend, hatten mein Gruppenkamerad Bob und ich die italienische Grenze passiert. Wir versuchten eine Mitfahrgelegenheit auf der - damals schon gebührenpflichtigen - Autostrada nach Mailand zu bekommen. Es war wenig Verkehr. Doch bis zu einer Abfahrt hinter Saronno, etwa 20 km vor Mailand, wurden wir von einem Pkw mitgenommen. Das letzte Stückchen bis zu unserem Tagesziel Mailand würden wir wohl auch noch schaffen! Es kam jedoch ganz anders. Der Mautwächter, der die Schranke für die Autostrada-Auf- und -Abfahrt bediente, beschimpfte uns heftig. Wir verstanden nicht viel. Doch einige Wörter wie "Tedeski", "Nazischweine" und "Hitler" hörten wir heraus. Das reichte uns. Wir tippelten deprimiert zu der nicht weit entfernten Landstraße. Dort kam uns ein sich merkwürdig fortbewegender Mann in Begleitung von zwei Fahrradfahrern entgegen. Es war ein "Geher", der für seine Sportdisziplin trainierte. Bei uns legte er eine Pause ein und fragte nach unserer Herkunft, unserem Ziel usw. Wir erzählten natürlich auch von dem Erlebnis an der Autostrada.

Unerwartete Einladung

Der Geher lud uns zu einer Tasse Kaffee ein. Wir wurden - mit unseren schweren Rucksäcken - von den Begleitern ebenfalls auf die Fahrräder bugsiert und ab ging es in das nächste Dorf. Dort bekamen wir in einem Wirtshaus winzige Tassen mit einer schwarzen, bitteren Flüssigkeit. Es war wohl Espresso. Die Verständigung klappte ganz gut: etwas Englisch, Wörterbuch-Italienisch, Deutsch und durch Zeichensprache. Für unsere Gastgeber waren wir eine kleine Sensation. Anscheinend ließ der langsam beginnende Touristenverkehr diese Region zwischen der schweiz-italienischen Grenze und Mailand "links liegen". Wir waren wohl die ersten Deutschen, die es nach dem 2. Weltkrieg hierher verschlagen hatte. So ergab es sich, daß wir auch zum Übernachten eingeladen wurden. Mit den Fahrrädern wurden wir in ein Dorf, das Pertusella heißt, transportiert. Unsere "Transporteure" verständigten sich mit den Dorfbewohnern, die wir unterwegs trafen, durch lautes Zurufen. Es entstand unter den Dorfbewohnern eine Aufregung und eine Hektik, die wir uns nicht erklären konnten. Wir wurden in ein Haus geführt und man begann uns zu bewirten. Nur eine bestimmte Gruppe der Dorfbewohner durfte zu uns in das Haus. Vor dem Haus versammelte sich eine größere Menschengruppe. Es gab Verbindungsleute, die hereinkamen, dann aber wieder hinausgingen und dort den Versammelten berichteten, was wir sagten, aßen oder wie wir uns anstellten. Wir wurden mit Spaghetti, Brötchen, Wurst, Schinken und Fleisch bewirtet. Dazu gab es Obst, Gemüse, Wein usw. Kleine grüne ölige Früchte mit Kernen schmeckten mir aber nicht; die ließ ich in meinen Lederhosentaschen verschwinden. In einem anderen Haus mußten wir dann auch noch Pudding essen. Dann gingen wir in Begleitung von mehreren Dorfbewohnern in die "Villa Arnaboldi". Dort begutachteten diese Leute ein Zimmer und die Betten. Sie überzeugten sich wohl davon, daß wir für die Nacht gut untergebracht waren. Mit großem Hallo verabschiedeten sie sich dann.

Beeindruckendes Erlebnis

Wir waren von dem Erlebten sehr beeindruckt und konnten das alles nicht richtig begreifen. Am nächsten Morgen war die Bewirtung wieder überwältigend. Auf unsere Bemerkung, ob die große Gastfreundschaft, die wir hier angetroffen hatten, durch ein Foto dokumentiert werden könnte, brach noch einmal große Hektik aus. Irgendwoher besorgte man einen Fotoapparat. Den Film dazu holte jemand mit dem Fahrrad aus einem Nachbardorf. Vor der Dorfkirche wurden wir dann mit einigen jungen Männern zusammen aufgestellt und fotografiert. Alle anderen Anwesenden mußten sich hinter dem "Fotografen" platzieren. In der Nähe von Pertusella befand sich eine elektrische Vorortbahnstation. Dorthin wurden wir noch von einer größeren Dorfbewohnergruppe begleitet. Unser Gepäck durften wir natürlich nicht selbst tragen. Dann erfolgte eine herzliche und lautstarke Verabschiedung. Zwei junge Männer aus dem Dorf fuhren mit uns nach Mailand. Sie bezahlten auch für uns die Fahrt und trugen unser Gepäck bis zur Jugendherberge. Dorf trafen wir unsere anderen Gruppenkameraden, die hier bereits übernachtet hatten.

Aufgeschrieben 1996 aufgrund von Tagebuchaufzeichnungen.

Empfohlene Zitierweise:
Bartsch, Horst: Begegnung in einem italienischen Dorf, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/horst-bartsch-begegnungen-in-einem-italienischen-dorf.html
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